Entführung des Großfürsten
darin nicht fanden, riefen wir ihn, denn wir dachten, er wolle mit uns Verstecken spielen.
Auf die Rufe kam Fandorin. Er spähte nach allen Seiten, hockte sich plötzlich hin und betrachtete etwas im Gras.
Es war das rosafarbene chinesische Bonbon, zertreten, offenbar von einem Absatz.
»Verdammt, verdammt, verdammt!« schrie Fandorin und schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel. »Ich hätte es voraussehen müssen!«
Und er stürzte davon, durchs Gebüsch.
7. Mai
Die Ereignisse des Abends und der Nacht, die auf das Verschwinden Seiner Hoheit folgten, werde ich nicht schildern, weil es eigentlich nichts zu schildern gibt. Hauptsorge der Personen, die von dem Vorfall wußten, war die Geheimhaltung, darum sah äußerlich alles so aus, als wäre nichts geschehen, nur daß ständig die Telephone klingelten und Berittene in gar zu wildem Galopp zwischen Eremitage, Petrowski-Schloß und der Residenz des Generalgouverneurs hin und her sprengten.
Diese sorgsam geheimgehaltene, aber geschäftige (um nicht zu sagen wirre) Aktivität brachte keinerlei Ergebnisse, denn das Wichtigste war unbegreiflich: Wer konnte ein Interesse daran haben, den kleinen Cousin Seiner Majestät zu entführen?
Das Rätsel löste sich am nächsten Morgen, als uns mit der gewöhnlichen Post ein Brief ohne Stempel zugestellt wurde – der Postbote konnte nicht erklären, wie er in seine Tasche gelangt war.
Aufgrund dieses Briefes hatte der Zar, der am Morgen noch seine dankbaren asiatischen Untertanen empfing – den Emir von Buchara und den Chan von Chiwa –, im letzten Moment die Parade auf dem Chodynka-Feld unter dem Vorwand des kalten regnerischen Wetters abgesagt und war inoffiziell, in einer gewöhnlichen geschlossenen Kutsche, die von seinem persönlichen Kammerdiener Dormidont Selesnjow gelenktwurde, und lediglich vom Leiter der Hofpolizei begleitet, zu uns in die Eremitage gekommen. Jetzt trat der wesentliche Vorzug dieses Park-Schlosses zutage, seine, wie schon aus dem Namen erhellt, Abgeschiedenheit.
Auf ebenso konspirative Weise trafen die Onkel Seiner Majestät ein – die Großfürsten Kirill und Simeon: der erste allein (auf dem Bock saß sein Haushofmeister Luka Jemeljanowitsch), der zweite mit seinem Adjutanten Fürst Glinski (den Wagen kutschierte der Haushofmeister Foma Anikejewitsch, der hochgeachtete Älteste unserer Zunft).
In unserem Haus wußten von dem außergewöhnlichen Ereignis außer der Familie nur ich und Mademoiselle Déclic, die Engländer (weil man es vor ihnen ohnehin nicht hätte geheimhalten können) und Leutnant Endlung (aus dem gleichen Grund und weil Großfürst Pawel keine Geheimnisse vor seinem zuchtlosen Freund hatte). Den Dienern, die im Haus lebten, hatte ich nichts gesagt, ihnen nur unter einem Vorwand verboten, die Eremitage zu verlassen. Als geschulte Hofdiener stellten sie keine Fragen. Und den Moskauer Dienern, die über dem Pferdestall untergebracht waren, wurde erklärt, der kleine Großfürst sei nach Iljinskoje gefahren, um seinen Onkel, den Generalgouverneur, zu besuchen.
Die in Petersburg gebliebene Großfürstin Jekaterina wurde selbstredend nicht in Kenntnis gesetzt. Warum sollte man Ihre Hoheit unnötig aufregen? Außerdem hatten wir bis zum Eintreffen des verhängnisvollen Briefes die Hoffnung gehegt, es handle sich um ein Mißverständnis und der kleine Großfürst werde in kürzester Zeit gesund und unversehrt in die Eremitage zurückkehren.
Muß ich erwähnen, daß ich fast die ganze Nacht kein Auge zutat? Mich suchten Bilder heim, eines schrecklicher als dasandere. Mal stellte ich mir vor, Seine Hoheit sei in eine unbemerkte, von Gras überwucherte Grube gefallen, und ich scheuchte nach Mitternacht erneut Diener mit Fackeln hinaus und hieß sie den Park absuchen, unter dem Vorwand, Großfürstin Xenia habe beim Spazierengehen einen Diamantohrring verloren. Dann, wieder in meinem Zimmer, deuchte mir, Großfürst Michail sei das Opfer eines wollüstigen Ungeheuers geworden, das Jagd auf kleine Jungs machte, und mir schlugen vor Entsetzen die Zähne aufeinander, so daß ich Baldriantropfen nehmen mußte. Doch am wahrscheinlichsten war natürlich die Vermutung, daß Kumpane des Mannes mit dem falschen Bart und dem Spitznamen »Narbe« den Knaben entführt hatten. Während wir die Großfürstin aus der Hand der Banditen befreiten, hatten Komplicen das schutzlose Kind verschleppt; dafür sprach, daß unweit der bewußten Wiese frische Radspuren einer weiteren Kutsche
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