Entführung des Großfürsten
Herr?« fragte ich, obwohl ich ihm natürlich als erstes für die Rettung hätte danken müssen, ganz gleich, wer er war. »Und was sind das für Leute, die uns überfallen haben?«
Großfürstin Xenia machte meinen Lapsus wett. Darin äußert sich eben das kaiserliche Geblüt – selbst in einem solchen Moment, da sie noch ganz verstört war, tat sie das Nötige und wahrte die Form.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie höflich, wobei sie den Mann mit den weißen Schläfen aufmerksam ansah. »Sie haben uns alle gerettet. Ich bin Großfürstin Xenia Georgijewna. Der Junge, der bei mir war, ist Mika, Großfürst Michail Georgijewitsch. Und das sind meine Freunde – Frau Déclic und Herr Sjukin.«
Der Unbekannte verneigte sich respektvoll vor Ihrer Hoheit, nahm den Zylinder ab, der sich wie durch ein Wunder bei all den Turbulenzen auf seinem Kopf gehalten hatte, und stellte sich mit stockender Stimme (wohl aus verständlicher Befangenheit gegenüber einem Mitglied der kaiserlichen Familie) vor: »Erast Petrowitsch F-Fandorin.«
Er fügte nichts hinzu, woraus zu schließen war, daß Herr Fandorin nirgendwo in Diensten stand und einfach eine Privatperson war.
»Und das ist mein K-Kammerdiener oder H-Haushofmeister, ich weiß nicht, was richtiger ist. Er heißt Masa und ist Japaner.« Fandorin zeigte auf den rauflustigen Straßenhändler, und der verbeugte sich tief und verharrte in dieser Haltung.
Es stellte sich heraus, daß der elegante Herr keineswegs verlegen war, sondern lediglich leicht stotterte; daß der Chinese überhaupt kein Chinese war; und schließlich daß der Asiat und ich so etwas wie Kollegen waren.
»Und was sind das für Leute, Erast Petrowitsch?« fragte die Großfürstin und zeigte ängstlich auf die erfolglosen Entführer, die reglos dalagen. »Sind sie ohnmächtig?«
Fandorin trat zu jedem der Liegenden, befühlte die Halsschlagader und schüttelte viermal den Kopf. Der Letzte, den er auf diese Weise untersuchte, war der schreckliche Bärtige. Fandorin drehte ihn auf den Rücken, und selbst mir, der ich von solchen Dingen nicht viel verstand, wurde klar, daß der Mann tot war – seine Augen hatten einen gar zu leblosen Glanz. Doch Fandorin beugte sich tiefer über den Leichnam, griff mit zwei Fingern nach dem Bart und zog plötzlich heftig daran.
Vor Überraschung schrie Ihre Hoheit auf, und auch ich fand solch pietätlosen Umgang mit dem Tod unstatthaft. Derlange schwarze Bart löste sich jedoch leicht vom Gesicht und blieb in Fandorins Hand.
Das tiefrote Gesicht des Toten war von Pockennarben entstellt, über die Wange zog sich außerdem eine weißliche Scharte.
»Das ist ein bekannter Warschauer Bandit, Lech Penderecki, mit Spitznamen Blizna, was ›Narbe‹ bedeutet«, erklärte Fandorin ruhig, als stelle er einen guten Bekannten vor, und fügte, gleichsam für sich, hinzu: »Darum geht’s also …«
»Sind diese Leute etwa alle tot?« fragte ich und zuckte zusammen, denn mir war bewußt geworden, in was für eine entsetzliche Lage diese Geschichte das ganze Kaiserhaus bringen konnte.
Wenn jetzt ein Passant hier vorbeikam, konnte das zu einem weltweiten Skandal führen. Nicht auszudenken – die Cousine des russischen Zaren sollte entführt werden! Vier Tote! Und obendrein ein Warschauer Bandit! Die Feierlichkeit der heiligen Krönung war in Gefahr!
»Man muß sie unverzüglich mit der Kutsche wegschaffen!« rief ich mit einer Hitzigkeit, die mir unter normalen Umständen gar nicht eigen ist. »Ob mir wohl Ihr Kammerdiener dabei helfen könnte?«
Während ich mit dem Japaner die Leichen in die Kutsche schleppte, hatte ich große Sorge, es könnte uns jemand bei dieser wenig ehrenhaften Beschäftigung überraschen. Obendrein lief mir Blut übers Gesicht, und meinen neuen Leibrock hatte ich auch noch mit fremdem Blut beschmiert.
Darum hörte ich nicht, worüber die Großfürstin und Fandorin sprachen. Ihre geröteten Wangen ließen darauf schließen, daß sie dem geheimnisvollen Herrn erneut für die Rettung dankte.
»Wo ist Seine Hoheit?« fragte ich Mademoiselle, sowie ich etwas zu Atem gekommen war. »Jetzt können Sie ihn herbringen.«
»Isch abe ihn in …« Sie schnipste mit den Fingern, um auf das Wort zu kommen, aber es fiel ihr nicht ein. »La gloriette. Baude?«
»Laube«, kam ich ihr zu Hilfe. »Wir gehen zusammen. Seine Hoheit wird verängstigt sein.«
Hinter den Büschen tat sich eine große Wiese auf, in deren Mitte eine weiße Holzlaube stand.
Als wir den Jungen
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