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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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entdeckt worden waren.
    Aber auch dieser Gedanke, obgleich weniger ungeheuerlich als der vorige, quälte mich. Wie mochte es Seiner Hoheit unter den fremden, bösen Menschen ergehen, dem kleinen Mika, einem zarten verwöhnten Jungen, der in der Überzeugung aufgewachsen war, daß alle ihn liebten, daß alle seine Freunde waren? Er wußte nicht einmal, was Angst ist, denn etwas Schlimmeres als ein leichter Klaps auf den Allerwertesten war ihm nie widerfahren. Der Junge war so offenherzig, so zutraulich.
    Mademoiselle wagte ich nicht anzusprechen. Den ganzen Abend war sie wie versteinert und machte nicht einmal den Versuch, sich zu rechtfertigen, rang nur die Hände und biß sich auf die Lippen, einmal bis aufs Blut – ich sah es und wollte ihr mein Taschentuch reichen, weil sie den herabrinnendenTropfen nicht einmal wahrnahm, aber ich unterließ es, um sie nicht in eine peinliche Lage zu bringen. In der Nacht schlief sie ebenfalls nicht, ich sah Licht unter ihrer Tür und hörte Schritte aus ihrem Zimmer. Nachdem der Moskauer Polizeipräsident Lassowski sie befragt, hatte sich Mademoiselle Déclic in ihrem Zimmer eingeschlossen. Ich trat im Laufe der Nacht zwei-, sogar dreimal an ihre Tür und lauschte. Die Gouvernante ging pausenlos hin und her, wie aufgezogen. Ich hätte gar zu gern bei ihr angeklopft und ihr gesagt, daß niemand ihr an dem Unglück die Schuld gab und daß ich sogar von ihrem Mut begeistert war. Aber mitten in der Nacht bei einer Dame anzuklopfen war völlig undenkbar. Außerdem hätte ich ohnehin nicht gewußt, wie ich mit ihr reden sollte.
     
    Die geheime Beratung in allerhöchster Anwesenheit wurde oben, im kleinen Salon, abgehalten, weiter weg von den Engländern, die sich übrigens mit dem ihrer Nation eigenen Takt sofort nach Ankunft Seiner Majestät zu einem Spaziergang in den Park entfernt hatten, obwohl es scheußlich regnete und das Wetter nicht zum Spazierengehen einlud.
    Ich bediente selbst. Natürlich durfte keiner der Lakaien bei der Beratung zugegen sein, zudem hätte ich es auch unter anderen Umständen für meine Pflicht und ehrenvolle Aufgabe gehalten, diesem so erlesenen Kreis persönlich aufzuwarten.
    Ein Uneingeweihter wird sich die Kompliziertheit dieser hohen Kunst schwerlich vorstellen können. Hier ist unbedingte Aufmerksamkeit vonnöten, ideale Behendigkeit und – was besonders wichtig ist – völlige Unauffälligkeit. Man verwandelt sich gleichsam in einen Schatten, in einen unsichtbaren Menschen, der bald nicht mehr wahrgenommenwird. Keinesfalls darf man die Teilnehmer einer wichtigen Beratung durch eine heftige Bewegung oder ein lautes Geräusch, nicht einmal durch einen auf den Tisch fallenden Schatten ablenken. In solchen Momenten komme ich mir vor wie der körperlose Gebieter und Gastgeber des verwunschenen Schlosses aus dem Märchen »Die feuerrote Blume«: die Getränke fließen von selbst in die Pokale und Tassen, Streichhölzer flammen auf und werden wie durch Zauberhand an Zigarren gehalten, aus den Aschenbechern verschwindet auf wundersame Weise die Asche. Als Großfürst Simeon einmal den Bleistift (er hat die Angewohnheit, ständig Teufelchen und Amoretten auf Papier zu zeichnen) zu Boden fallen ließ, war ich zur Stelle – ich kroch nicht unter den Tisch, womit ich die Aufmerksamkeit auf mich gezogen hätte, sondern reichte dem Generalgouverneur von hinten einen anderen Bleistift derselben Sorte.
    Ich kann mit Stolz sagen, daß die Teilnehmer dieser heiklen und für das Schicksal der Dynastie wichtigen Beratung kein einziges Mal die Stimme senkten – für einen Diener die höchste Auszeichnung. Freilich wechselte das Gespräch immer wieder ins Französische, aber nicht meinetwegen, sondern weil es Seiner Majestät und den Großfürsten im Grunde gleich war, ob sie russisch oder französisch sprachen. Hätten sie Teile der Erörterung vor mir geheimhalten wollen, so würden sie englisch gesprochen haben, denn, wie schon gesagt, kaum einer von den Haushofmeistern der älteren Generation beherrscht dieses Idiom, doch französisch sprechen wir fast alle. Genauer, nicht sprechen, sondern verstehen wir, denn es wäre überaus sonderbar, wenn ich, Afanassi Sjukin, ein Mitglied der kaiserlichen Familie oder einen Höfling plötzlich auf französisch anreden würde. Man muß seinen Platzkennen und nicht mehr scheinen wollen, als man ist – das ist die goldene Regel, die zu befolgen ich jedem nur raten kann, ungeachtet seiner Herkunft und Stellung.
    Der Zar,

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