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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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für seinen Patriotismus bekannt, sprach als einziger der Anwesenden nur russisch. Wie sich zeigte, erinnerte sich Seine Majestät an mich noch aus der Zeit, da ich unter dem seligen Zaren Tafeldecker war. Schon unten, am Eingang, hatte er geruht zu mir zu sagen: »Guten Tag, Afanassi Stepanowitsch. Haben Sie den Baldachin mit meinem Monogramm anbringen lassen? Sehr schön, ich danke Ihnen.«
    Die ausgesuchte Höflichkeit Seiner Majestät und sein erstaunliches Gedächtnis für Namen und Gesichter sind bekannt. Natürlich werden alle Großfürsten schon in früher Kindheit darin unterwiesen, ihr Gedächtnis zu schulen, dafür gibt es eine spezielle Methode, doch die Fähigkeit Seiner Majestät auf diesem Gebiet ist außergewöhnlich. Er merkt sich jeden Menschen, den er einmal gesehen hat, und das macht auf viele Leute großen Eindruck. Was die Höflichkeit angeht, so sind der Zar und die Zarin die einzigen der kaiserlichen Familie, die alle Bediensteten siezen. Vielleicht ist dies der Grund, daß wir Diener für die Majestäten zwar Ehrfurcht empfinden, sie aber zugleich nicht sehr … Doch still. Darüber spricht man nicht. Das denkt man nicht einmal.
    Der Zar saß an der Stirnseite des Tisches, war finster und schweigsam. Neben seinen stattlichen hochgewachsenen Onkeln wirkte er klein und unscheinbar, fast wie ein Halbwüchsiger. Was soll ich über unseren Großfürsten Georgi sagen – ein Mann wie ein Berg: schön, wuchtig, mit verwegen gezwirbeltem Schnurrbart, angetan mit dem prächtigen Admiralsrock, gegen den sich die bescheidene Oberstenuniform des Zaren armselig ausnahm. Großfürst Simeon, dergrößte und imposanteste unter den Brüdern des seligen Herrschers, glich mit seinem ebenmäßigen, wie aus Eis gehauenen Gesicht einem mittelalterlichen spanischen Granden. Der älteste, Großfürst Kirill, der die kaiserliche Garde befehligte, sah nicht so gut aus wie seine Brüder, war dafür aber majestätisch und respekteinflößend, denn er hatte von seinem gekrönten Großvater den berühmten Basiliskenblick geerbt. Es kam vor, daß Offiziere, die sich im Dienst ein Vergehen zuschulden kommen ließen, bei diesem Blick in Ohnmacht fielen.
    Der junge Großfürst Pawel benahm sich in Gegenwart dieser Autoritäten des Herrscherhauses mucksmäuschenstill und wagte nicht einmal zu rauchen. Geladen war auch der Chef der Hofpolizei Oberst Karnowitsch, ein wortkarger Herr mit großen Möglichkeiten und äußerst sparsamen Gefühlen. Er saß nicht am Tisch, sondern in einem Winkel.
    Im Korridor wartete auf einem Stuhl unser gestriger Retter Herr Fandorin. Ich war angewiesen worden, ihn im Haus unterzubringen, und hatte ihm mangels anderer Räumlichkeiten das Kinderzimmer zur Verfügung gestellt, denn ich ging zu Recht davon aus, daß dieser Herr sich nur bis zur Rückkehr des kleinen Großfürsten in der Eremitage aufhalten werde. Den Japaner wollte ich im Pferdestall einquartieren, doch er wünschte, bei seinem Herren zu bleiben. Er hatte die Nacht auf dem Fußboden verbracht, den Kopf auf einen Plüschbären gebettet, und schien, nach seiner glatten Physiognomie zu urteilen, wunderbar geschlafen zu haben. Fandorin hatte sich überhaupt nicht hingelegt, sondern bis zum Morgengrauen mit einer elektrischen Lampe den Park abgesucht. Ob er etwas gefunden hatte, erfuhr ich nicht. Er ließ sich in keine Gespräche ein, nicht mit dem Polizeipräsidentenund schon gar nicht mit mir. Er sagte nur, er werde dem Zaren persönlich Bericht erstatten.
    Von eben diesem rätselhaften Herrn wurde gleich zu Beginn der Beratung gesprochen.
    Nein, zuerst wurde gelesen – am Tisch ging der bewußte Brief, dessen Inhalt ich noch nicht kannte, von Hand zu Hand.
    Dann wandten sich alle dem Zaren zu. Ich hielt den Atem an, um genau zu hören, mit was für Worten Seine Majestät das außerordentliche Treffen eröffnete.
    Der Herrscher räusperte sich verlegen, ließ düster den Blick über die Gesichter der Anwesenden gleiten und sagte leise: »Es ist entsetzlich. Einfach entsetzlich. Onkel Kirill, was sollen wir bloß tun?«
    Der Zar hatte gesprochen, der Etikette war Genüge getan, und nun ging der Vorsitz ganz von selbst an den Großfürsten Kirill über, der unter dem vorigen Zaren als heimlicher Mitregent gegolten und seine Position unter dem neuen Herrscher noch mehr gefestigt hatte.
    Er sprach langsam und gewichtig: »Vor allem Haltung bewahren, Nicky. Von deinem Verhalten hängt das Schicksal der Dynastie ab. In diesen Tagen sind

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