Entführung des Großfürsten
meinen Platz in der Diele einzunehmen und mich bei einem Anruf der Entführer unverzüglich aus der Orangerie zu holen.
Als ich die Eremitage beschrieb, habe ich wohl vergessen, den angenehmsten Raum des alten Schlosses zu erwähnen – den verglasten Wintergarten, der mit seinen hohen Fenstern auf die Moskwa blickt.
Diese abgeschiedene Räumlichkeit, die zu vertraulichem Gespräch einlud, wählte ich aus, um mir etwas von der Seele zu reden, was mir schon den vierten Tag keine Ruhe ließ. Ich mußte meine verfluchte Schüchternheit überwinden und der armen, verhärmten Mademoiselle Déclic endlich sagen, daß sie keinen Grund hatte, sich so zu martern. Woher hätte sie denn wissen sollen, daß hinter den Büschen versteckt noch eine Kutsche stand? Selbst der schlaue Fandorin, der über Doktor Lind Bescheid wußte, war nicht darauf gekommen.
Ich befahl Lipps, in der Orangerie ein Tischchen für zwei Personen zu decken, und ließ Mademoiselle fragen, ob es ihr genehm sei, mit mir eine Tasse Tee zu trinken. (In Petersburg hatten wir öfter mal bei einem Täßchen gutem Kiachta-Tee zusammengesessen.)
Ich wählte einen hübschen Winkel, der vom übrigen Teil der Orangerie durch üppige Magnolienbüsche völlig abgeschirmt war. Während ich auf die Gouvernante wartete, war ich sehr aufgeregt und legte mir die passenden Worte zurecht, die eindeutig, aber nicht aufdringlich sein sollten.
Doch als Mademoiselle kam – traurig, in einem strengen dunkelgrauen Kleid, einen Schal auf den Schultern –, konnte ich mich nicht entschließen, sofort das heikle Thema anzuschneiden.
»Komisch«, sagte ich hüstelnd, »hier drin ist Garten, und draußen auch.«
Ich meinte: Wir sitzen hier im Wintergarten, während vor der Scheibe natürlicher Garten ist.
»Ja«, sagte sie mit gesenktem Kopf und rührte mit dem Löffelchen in ihrem Tee.
»Sie haben sich unnötig …«, entschlüpfte es mir, aber da hob sie den Kopf und sah mich mit glänzenden Augen an, und ich beendete den Satz anders, als ich beabsichtigt hatte, »so warm angezogen, heute ist es sommerlich mild, sogar heiß.«
Ihr Blick erlosch.
»Mir ist nischt eiß«, sagte sie leise, und wir schwiegen beide.
Und diese Stille machte das Folgende möglich.
In der Orangerie erklangen Schritte, dann war die Stimme der Großfürstin Xenia zu hören: »Ja, ja, Erast Petrowitsch, genau hier. Niemand wird uns stören.«
Ich wollte den Stuhl zurückschieben und mich erheben, aber Mademoiselle Déclic drückte plötzlich meine Hand, und ich erstarb vor Überraschung, denn noch nie hatte sie dergleichen getan. Als ich mich wieder gefaßt hatte, war es zu spät, sich bemerkbar zu machen.
»Was möchten Sie mir mitteilen?« fragte er leise und, wie mir schien, vorsichtig.
»Nur eines …«, flüsterte Ihre Hoheit, fügte dem aber nichts hinzu – es war nur das Rascheln von Stoff und ein ganz leises Knarren zu hören.
Beunruhigt schob ich das üppige Blattwerk auseinander und erstarrte: Ihre Hoheit hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt (das leise Knarren kam also von ihren Schuhen), umschlang Fandorins Hals mit beiden Armen und drückte ihre Lippen auf die seinen. Der Arm des Detektivs hing hilflos herab; die Finger krümmten und streckten sich, dann flogen sie wie in einem plötzlichen Entschluß in die Höhe undstreichelten Xenia Georgijewnas Kopf mit den üppigen hellen Locken.
Dicht an meinem Ohr vernahm ich beschleunigten Atem – es war Mademoiselle, die auch Zweige auseinandergeschoben hatte und auf das küssende Paar schaute. Mich verblüffte ihr merkwürdiger Gesichtsausdruck. Die Augenbrauen waren in einem belustigten Erstaunen hochgezogen, ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen. Die in doppeltem Sinne skandalöse Situation – der Kuß an sich und mein unwillkürliches Zusehen – trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Meine Komplizin hingegen schien keinerlei Peinlichkeit zu empfinden.
Das Küssen dauerte lange, sehr lange. Ich hätte nicht gedacht, daß man sich, ohne Luft zu holen, so lange Zeit küssen kann. Natürlich blickte ich nicht auf die Uhr, und vielleicht kam es mir wie eine Ewigkeit vor, weil der Vorgang so ungeheuerlich war.
Aber da löste sich die Umarmung, und ich sah die strahlenden Augen Ihrer Hoheit und das völlig veränderte, konfuse Gesicht des Verführers. Dann nahm die Großfürstin mit entschlossener Miene Fandorin bei der Hand und zog ihn mit sich fort.
»Was meinen Sie, wo geht sie mit ihm hin?« fragte ich flüsternd, wobei ich
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