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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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es vermied, Mademoiselle anzusehen.
    Ich vernahm einen sonderbaren Laut, eine Art Kichern. Verwundert blickte ich die Gouvernante an, aber sie sah ganz ernst aus.
    »Danke für den Tee, Afanassi Stepanowitsch.« Sie verneigte sich förmlich und ließ mich allein zurück.
    Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Was tun? Die Ehre des Kaiserhauses befand sich in Gefahr – Gott weiß, wo diese Leidenschaft hinführen konnte, wenn man nicht rechtzeitigEinhalt gebot. Dem Großfürsten Georgi Mitteilung machen? Nein, ausgeschlossen, ihm auch noch diese Last aufzuladen. Ich mußte mir selbst etwas ausdenken.
    Doch ich konnte mich nicht konzentrieren, ganz abseitige Gedanken gingen mir durch den Kopf.
    Weshalb hatte Mademoiselle meine Hand gedrückt? Ich fühlte noch immer die trockene Hitze ihrer Finger.
    Und wie war das Kichern zu verstehen, vorausgesetzt, ich hatte mich nicht verhört?
    Die Scheiben erbebten wie von einem Schlag, mächtiges Getöse setzte ein – von den Kremltürmen böllerten die Kanonen und verkündeten den Beginn des festlichen Einzugs. Also war es schon Mittag.
    Da wurde ich in die Diele gerufen. Der Briefträger hatte die Post gebracht, und unter den gewöhnlichen Couverts, die alle möglichen Einladungen, Mitteilungen und Aufrufe zur Wohltätigkeit enthielten, war eins ohne Stempel entdeckt worden.
    Um dieses papierene Rechteck, das mitten auf dem Tischchen vor dem Spiegel lag, versammelten wir uns: ich, zwei Agenten und Fandorin – ungewöhnlich rosig, mit verrutschtem Kragen.
    Während er den Postboten befragte, auf welchem Wege er gekommen sei, ob er seine Tasche irgendwo abgestellt habe, öffnete ich mit zitternden Fingern das Couvert und zog zusammen mit einem vierfach gefalteten Blatt Papier eine Locke weicher, goldschimmernder Haare heraus.
    »O mein Gott!« entfuhr es mir, denn es war ohne Zweifel eine Locke des kleinen Großfürsten.
    Fandorin ließ den erschrockenen Postboten stehen und kam zu mir. Wir lasen gemeinsam das Schreiben.
     
    »
Meine Herren, Sie haben die Bedingungen der Abmachung nicht eingehalten. Ihr Mittelsmann hat versucht, die Ware mit Gewalt an sich zu bringen, ohne den verabredeten Preis zu zahlen. Als erste Warnung schicke ich Ihnen eine Locke des Prinzen. Beim nächsten Verstoß Ihrerseits erhalten Sie einen Finger von ihm.
    Zu dem Herrn mit dem Hundebart habe ich kein Vertrauen mehr. Ich lehne ihn als Mittelsmann ab. Heute soll die Gouvernante des Prinzen, die ich im Park gesehen habe, zur Übergabe kommen. Um der Dame das Tragen eines schweren Koffers zu ersparen, wollen Sie mir diesmal als Ratenzahlung die Saphirschleife, angefertigt vom Leibjuwelier der Zarin Elisabeth, übergeben; dieser Schnickschnack ist nach Meinung meines Spezialisten eine Million wert, vielleicht ein bißchen mehr, aber wir wollen doch nicht kleinlich sein, oder?
    Ab sechs Uhr nachmittags soll die Gouvernante allein auf dem Arbat und in den umliegenden Gassen spazierengehen, wobei möglichst menschenleere zu wählen sind. Man wird an sie herantreten.
    Aufrichtig Ihr
    Doktor Lind«
     
    »Ich fürchte, das ist unmöglich«, war das erste, was ich sagte.
    »W-Warum?« fragte Fandorin.
    »Laut Verzeichnis der Kronjuwelen gehört die Saphirschleife zum coffret der Zarin.«
    »Ja und?«
    Ich seufzte nur. Woher sollte er wissen, daß für Ihre Majestät, die eifersüchtig auf die Würde ihres etwas trügerischen Status bedacht war, die Kronjuwelen eine besondere, übersteigerte Bedeutung besaßen.
    Nach festgelegtem Zeremoniell war die verwitwete Zarin verpflichtet, ihrer Nachfolgerin sofort nach deren Thronbesteigung das coffret zu übergeben, doch Maria Feodorowna, die einen Sinn für schöne Dinge hatte, eine eigenwillige Person und obendrein ihrer Schwiegertochter nicht besonders gewogen war, mochte sich von den Juwelen nicht trennen und hatte ihrem Sohn, dem Thronfolger, verboten, sie mit diesem Thema zu behelligen.
    Eine peinliche Situation trat ein, als Seine Majestät, einerseits respektvoller Sohn, andererseits liebender Gatte, zwischen beide Feuer geriet und nicht wußte, was er tun sollte. Der Widerstand währte viele Monate und endete erst kürzlich mit einer überraschenden, aber starken Demarche der jungen Zarin. Als, nach zahlreichen Andeutungen und offenen Forderungen ihrerseits, Maria Feodorowna einen kleinen Teil des coffret schickte (vornehmlich Smaragde, die sie nicht mochte), verkündete Alexandra Feodorowna ihrem Gatten, sie halte das Tragen von Juwelen für

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