Entführung des Großfürsten
sich geschickt von Ast zu Ast. Auf diese Weise umrundete er den Ahorn und wiederholte sodann die Prozedur.
Ich konnte die Augen nicht lösen von dem mageren muskulösen Körper und empfand das brennende, mir völlig wesensfremde Gefühl brodelnder hilfloser Wut. Oh, wenn ich ein Zauberer wäre, ich hätte diesen Mann auf der Stelle in einen Affen verwandelt – dann könnte er nach Herzenslust in den Bäumen herumspringen.
Schließlich wandte ich mich ab und bemerkte, daß an einem Fenster im Erdgeschoß die Stores beiseite gezogenwaren. Es war wohl das Zimmer von Mr. Carr. Da sah ich ihn auch schon. Unverwandt schaute er Fandorin bei dessen Gymnastik zu, wobei er sich auf die Lippen biß und mit träumerischer Miene zärtlich das Glas streichelte.
Der Tag, der so spät begonnen hatte, verging qualvoll langsam. Ich versuchte, mich mit der Hauswirtschaft zu beschäftigen und Vorbereitungen für die bevorstehenden Empfänge, Gesellschaften und Zeremonien zu treffen, ließ es jedoch bald wieder sein, denn diese wichtigen Dinge erfordern volle Konzentration, meine Gedanken indes waren unendlich weit weg von der Zusammenstellung eines Menüs, dem Putzen des Tafelsilbers und dem Lüften der Paradeuniformen und Abendkleider.
Ich konnte kein Wort mit Mademoiselle wechseln, denn Karnowitsch wich ihr nicht von der Seite. Er übte mit ihr die bevorstehende Begegnung mit den Entführern. Um zwei Uhr nachmittags fuhr sie in einer Kutsche davon. Ich hatte nur noch von oben gesehen, wie sie mit hoch erhobenem Kopf die Stufen der Freitreppe hinunterschritt, in der Hand ein Täschchen, in dem wohl das Kleine Brillantbouquet lag, die wunderbare Arbeit des Leibjuweliers Pfister.
Während Mademoiselle also dem Treffen entgegenfuhr, saß ich mit Mr. Freyby auf einer Bank. Zuvor war ich, von Unruhe getrieben, vor der Eremitage auf und ab gegangen. Da sah ich auf der Wiese den englischen Butler, diesmal ohne Buch. Er saß einfach da und blinzelte wohlig in die Sonne. So friedlich und sorglos sah er aus, daß ich, von plötzlichem Neid gepackt, stehenblieb. Das ist der einzige Mensch in diesem verrückten Haus, der Normalität und gesunden Menschenverstand ausstrahlt, dachte ich. Und mich überkam plötzlich das unbändige Verlangen, mit demselben Appetitwie er den schönen Tag zu genießen, auf der sonnigen Bank zu sitzen, das Gesicht in den linden Maiwind zu halten und über nichts, rein gar nichts nachzudenken.
Der Brite schien auf geheimnisvolle Weise meinen Wunsch erraten zu haben. Er öffnete die Augen, lüpfte höflich die Melone und machte eine einladende Geste, ihm Gesellschaft zu leisten. Warum nicht, dachte ich. Sollen sich die Nerven ein bißchen erholen.
Ich dankte (»tänk ju«) und setzte mich. Ach, wie schön. Mr. Freyby nickte mir zu, ich ihm, und dieses Ritual ersetzte vortrefflich jede Konversation, zu der ich in meinem desolaten Zustand ohnehin keine Kraft gehabt hätte.
Nach einer Weile, Mademoiselle Déclic fuhr in Richtung Erlöserkirche, wurde ich wieder unruhig und rutschte auf der Bank hin und her. Da zog der Butler aus seiner voluminösen Tasche ein flaches Lederfläschchen, schraubte den silbernen Verschluß ab, füllte ihn mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit und reichte ihn mir. Er selbst machte Miene, gleich aus der Flasche zu trinken.
»Whisky«, erklärte er, als er meine Unschlüssigkeit bemerkte.
Ich hatte schon viel von diesem angelsächsischen Getränk gehört, es aber noch nie probiert. Ich muß dazu sagen, daß ich überhaupt keine harten Getränke zu mir nehme, ich trinke nur zweimal im Jahr ein Gläschen leichten Malvasier, zu Ostern und am Tag des Schutzheiligen des Großfürsten Georgi.
Doch Freyby nahm mit solchem Genuß einen Schluck aus seiner Flasche, daß auch ich mich entschloß – ich legte den Kopf zurück und kippte alles in einem Zug hinunter, wie das Leutnant Endlung mit Rum zu tun pflegte.
Die Kehle wurde wie mit einer Feile aufgerauht, aus denAugen spritzten Tränen, und der Atem blieb mir weg. Voller Entsetzen blickte ich den tückischen Engländer an, aber der zwinkerte mir freundlich zu, als freue er sich seiner Missetat. Warum nur trinken Menschen etwas so Scheußliches?
Dann breitete sich in meinem Innern Wärme und Süße aus, die Unruhe schwand und wich stiller Wehmut, mich dauerten die Menschen, die aus ihrem Leben nur Wirrwarr und Chaos machten und dann selbst darunter litten.
Wir schwiegen wunderbar miteinander. Er wäre dazu geeignet, mir in Bezug auf die
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