Entführung des Großfürsten
setzte mich auf den Treppenabsatz.
Im Morgengrauen, als die neugeborene Sonne zaghafteStrahlen vom Fenster her übers spiegelblanke Parkett breitete, hörte ich leichte Schritte auf der Treppe, dann sah ich die Großfürstin Xenia, in einen leichten Spitzenschal gehüllt.
»Afanassi, du?« fragte sie, als messe sie unserer Begegnung zu dieser ungewöhnlichen Stunde keine besondere Bedeutung bei.
Ihr Gesicht hatte einen sonderbaren Ausdruck, wie ich ihn nie zuvor an ihr gesehen hatte.
»Wie unwirklich alles ist«, sagte sie und setzte sich auf eine Stufe. »Das Leben ist absonderlich. Schreckliches und Wunderbares liegen dicht beieinander. Ich war noch nie so unglücklich und zugleich so glücklich. Ich bin ein Ungeheuer, nicht wahr?«
Die Großfürstin hatte geschwollene Augen und Lippen. Nun, die Augen, das kam vom Weinen. Aber die Lippen?
Ich verbeugte mich, ohne zu antworten, obwohl ich den Sinn ihrer Worte sehr wohl verstanden hatte. Hätte ich den Mut dazu gehabt, dann hätte ich gesagt: Nein, Hoheit, wenn jemand ein Ungeheuer ist, dann Erast Petrowitsch Fandorin. Sie sind nur ein unerfahrenes junges Mädchen.
»Gute Nacht, Hoheit«, brachte ich schließlich hervor, obwohl die Nacht schon vorbei war, und ging in mein Zimmer.
Ohne mich erst zu entkleiden, setzte ich mich in einen Sessel, sah stumpf vor mich hin und lauschte den morgendlichen Vögeln, deren Namen ich nicht wußte. Vielleicht waren es Nachtigallen oder Amseln? In solchen Dingen kenne ich mich nicht aus. Ich lauschte ihnen und merkte nicht, wie ich einschlief.
Ich träumte, ich wäre eine elektrische Lampe und müßte einen Saal beleuchten, in dem sich Paare im Walzer drehen.Von oben sehe ich das Glitzern der Epauletten, den Glanz der Brillantdiademe, die goldenen Fünkchen der Uniformstickereien. Musik spielt, unter den hohen Gewölben hallt das Echo vieler Stimmen, die zu einem einzigen Brausen verschmelzen. Plötzlich bemerke ich, wie zwei Paare zusammenstoßen. Und dann auch andere, immer mehr. Jemand stürzt, jemand wird aufgefangen, aber das Orchester spielt schneller und immer schneller, und das Kreisen der Tanzenden bricht keinen Moment ab. Mit einemmal begreife ich, woran das liegt – ich werde meiner Aufgabe nicht gerecht, mein Licht ist zu trüb, daher das Durcheinander. Von Panik ergriffen, spanne ich mich an, um heller zu leuchten, aber es gelingt mir nicht. Im Gegenteil, mit jeder Sekunde wird es dunkler im Saal. Zwei elegante Paare rasen im Tanz aufeinander zu und sehen nicht, daß der Zusammenstoß unvermeidlich ist. Ich weiß nicht, wer das ist, aber danach zu urteilen, wie respektvoll das Publikum vor ihnen zurücktritt, sind es keine gewöhnlichen Gäste, sondern Mitglieder der kaiserlichen Familie. Ich unternehme eine ungeheure Anstrengung, so daß die dünne Glashaut leise vibriert, und ein Wunder geschieht: Ich selbst und die ganze Welt ringsum erstrahlt in blendendem, alles erhellendem Licht. In diesem zauberischen Moment erbebe ich vor Glückseligkeit und stoße einen Freudenschrei aus – und erwachte.
Ich schlug die Augen auf und mußte gegen die Sonne anblinzeln, die offenbar in diesem Moment mein Gesicht erreicht hatte.
Die letzten Wellen der trügerischen Freude machten sogleich tiefem Erschrecken Platz: Die strahlende Scheibe stand hoch am Himmel, also war es schon spät. Zumindest war die Frühstückszeit wohl vorüber.
Ächzend sprang ich auf die Beine, und erst jetzt fiel mir ein, daß ich ja noch von den häuslichen Verpflichtungen befreit war, die vorübergehend Somow versah. Ich lauschte, und mir fiel auf, wie still es im Haus war.
Nun ja, das war erklärlich. Alle hatten sich spät hingelegt, und sicherlich war noch niemand aufgestanden.
Nachdem ich mich gewaschen und die Kleidung in Ordnung gebracht hatte, machte ich einen Rundgang und überzeugte mich, daß wenigstens die Diener nicht schliefen und daß der Frühstückstisch gedeckt war.
Ich trat vors Haus, um zu sehen, ob die Equipagen zur Ausfahrt bereitstanden, und ging dann in den Garten, um Tulpen für Großfürstin Xenia und Stiefmütterchen für Mademoiselle Déclic zu pflücken.
Auf der Wiese begegnete ich Herrn Fandorin. Genauer, ich sah ihn und versteckte mich instinktiv hinter einem Baum.
Fandorin zog sein weißes Hemd aus, machte mit den Armen wunderliche Bewegungen, hüpfte hoch und hing plötzlich am unteren Ast eines ausladenden Ahorns. Nachdem er eine Weile geschaukelt hatte, machte er etwas ganz Phantastisches: Er schwang
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