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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Wort
Erast
.
    Wie kam sie dazu, ihn Erast zu nennen!
    »Ich bin völlig gesund«, versicherte ich den beiden, »und ich würde Ihnen gern Gesellschaft leisten.«
    Fandorin erhob sich und schüttelte den Kopf.
    »Masa wird uns Gesellschaft leisten. Ich fürchte, daß er Ihnen noch immer zürnt. Die Zeit im K-Kittchen wird ihn nicht milder gestimmt haben. Bleiben Sie noch im Bett.«
     
    Natürlich blieb ich nicht im Bett. Aber ich hatte nichts zu tun, denn Somow hatte endgültig meine Pflichten übernommen, und gerechterweise muß ich sagen, daß er seine Sache gut machte, zumindest entdeckte ich keine ernsteren Versäumnisse, obwohl ich aufs sorgfältigste die Sauberkeit in den Zimmern, das Geschirr, den Pferdestall und sogar den Zustand der Türklinken überprüfte. Ich ordnete lediglich an, die Rosen im Schlafzimmer Ihrer Hoheit durch Anemonen zu ersetzen und die leere Flasche unter dem Bett von Leutnant Endlung zu entfernen.
    So war ich also kaltgestellt, verprügelt (noch dazu verdientermaßen) und vor Mademoiselle gedemütigt. Vor allem aber peinigte mich ein grauenhaftes Bild: der kleine Großfürst in dem feuchten Keller. Die seelische Erschütterung, die Gewalt, die physischen Qualen, die anhaltende Wirkung von Narkotika, all das konnte in einem so zarten Alter nicht ohne Folgen bleiben. Schrecklich, daran zu denken, wie es sich auf den Charakter und die seelische Gesundheit des Jungen auswirken würde. Doch jetzt mußte er erst einmal aus den Krallen des grausamen Doktors befreit werden.
    Und ich nahm mir vor, Fandorin alles zu verzeihen, wenn er nur das Kind rettete.
     
    Zum Abendessen kehrte die großfürstliche Familie, die an der feierlichen Weihe der Staatsfahne in der Rüstkammer teilgenommen hatte, in die Eremitage zurück.
    Im Korridor faßte mich die Großfürstin Xenia am Ärmel und fragte leise: »Wo ist Erast Petrowitsch?«
    Offenbar gedachte Ihre Hoheit mich zum Konfidenten ihrer affaire de coeur 18 zu machen, doch ich wollte diese zweideutige Rolle keineswegs übernehmen.
    »Herr Fandorin ist mit Mademoiselle Déclic weggefahren«, antwortete ich kühl mit einer Verbeugung und verharrte in dieser Haltung, um nicht dem Blick der Großfürstin zu begegnen.
    Meine Antwort schien sie unangenehm zu berühren.
    »Mit Emilie? Aber weshalb?«
    »Es hängt mit Plänen zur Befreiung des Großfürsten zusammen«, antwortete ich, ohne auf Einzelheiten einzugehen, bemüht, das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden.
    »Ach, was bin ich doch für eine Egoistin!« In den Augen der Großfürstin schimmerten Tränen. »Wie häßlich von mir! Der arme Mika! Nein, ich denke ja immerzu an ihn und habe die ganze Nacht für ihn gebetet …« Sie errötete plötzlich und korrigierte sich: »Fast die ganze Nacht …«
    Diese Worte, die nur in einem Sinne zu verstehen waren, verdarben mir endgültig die Stimmung, und ich fürchte, daß ich während des Abendessens meinen Obliegenheiten nicht aufmerksam genug nachkam.
    Die Tafel war zu Ehren unserer britischen Gäste besonders festlich hergerichtet. Anlaß war der Geburtstag Ihrer Majestät der englischen Königin Victoria, die in der Familie einfach Granny genannt und aufrichtig geachtet und geliebt wird. Zum letztenmal habe ich die »Großmutter ganz Europas« und zugleich Kaiserin von Indien und Herrscherin über die erste Weltmacht in diesem Frühling in Nizza gesehen, alssie ein Fest für die Großfürstin Xenia und den Prinzen Olaf ausrichtete. Sie kam mir stark gealtert, aber noch kräftig vor. Unsere Höflinge erzählen, daß sie nach dem Ableben ihres Gatten lange Jahre ein Verhältnis zu ihrem Kammerlakaien unterhielt, aber wenn man diese respektable und majestätische Person ansieht, mag man das nicht glauben. Im übrigen wird über kaiserliche Personen immer viel geredet – man darf Gerüchten niemals Bedeutung beimessen, solange sie keine formale Bestätigung gefunden haben. In meiner Gegenwart dulde ich jedenfalls keinen derartigen Klatsch über die englische Königin.
    Mit dem Abendessen wollte Großfürst Georgi wenigstens teilweise den Mangel an Aufmerksamkeit ausgleichen, den die englischen Gäste auf Grund der furchtbaren Entführung zu spüren bekamen. Somow hatte alle Vorbereitungen allein getroffen, mir blieb nur, das Servieren und das Menü zu überprüfen – alles war untadelig.
    Fröhlichkeit kam nicht auf, obwohl Endlung sich aus Leibeskräften darum bemühte, und auch Großfürst Georgi benahm sich so, wie es einem wahrhaft

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