Entführung des Großfürsten
lächelnd und schaute zu mir hoch, wobei sie es wie durch ein Wunder fertigbrachte, den Eindruck zu erwecken, als stehe sie nicht auf der Erde, sondern auf einem Podest. »Guten Tag, mein Freund. Etwas von Georgie?«
»Nein«, entgegnete ich mit einer tiefen Verbeugung. »Ich komme in einer geheimen Sache von höchster Wichtigkeit.«
Die kluge Frau stellte keine Frage. Sie wußte, daß Afanassi Sjukin so etwas nicht einfach daherredet. Besorgt zog sie die Brauen hoch und machte mir ein Zeichen, ihr zu folgen.
Ich folgte ihr durch einige Zimmer ins Boudoir. Sie schloß die Tür, setzte sich aufs Bett, wies mir mit einer Geste einen Sessel zu und sagte: »Sprechen Sie.«
Ich legte ihr das Problem dar, ohne etwas zu verheimlichen. Die Erzählung geriet lang, weil in den letzten Tagen viel geschehen war, gleichwohl kürzer, als man erwarten konnte, denn Frau Sneshnewskaja stöhnte nicht, griff sich nicht ans Herz und unterbrach mich kein einziges Mal, sie nestelte mit ihren wunderschönen zarten Fingern nur immer häufiger an ihrem Spitzenkragen.
»Michail Georgijewitsch ist in Todesgefahr, und über dem ganzen Hause Romanow schwebt eine schreckliche Bedrohung«, beendete ich meine Erzählung, wobei ich mir den dramatischen Schluß hätte sparen können, denn meine Zuhörerin hatte das auch so verstanden.
Lange, sehr lange schwieg sie. Noch nie hatte ich in ihrem puppengleichen Gesicht eine solche Erregung gesehen, selbst damals nicht, als ich ihr im Auftrag des Großfürsten Georgi die Briefe des Thronfolgers abverlangte.
Ich hielt das Schweigen nicht aus und fragte: »Sehen Sie einen Ausweg?«
Sie blickte mich traurig und, wie mir schien, teilnahmsvoll mit ihren klaren blauen Augen an. Doch ihre Stimme war fest, als sie sagte: »Nur einen. Das Kleinere zugunsten des Größeren opfern.«
»Das ›Kleinere‹, das ist Seine Hoheit?« präzisierte ich und schluchzte ganz erbärmlich.
»Ja. Und ich versichere Ihnen, Afanassi, eine solche Entscheidung wurde bereits gefaßt, obwohl es noch niemand laut sagt. Die Steinchen aus dem coffret, na schön, aber den ›Orlow‹ wird niemand diesem Doktor Lind überlassen. Um nichts auf der Welt. Ihr Fandorin ist ein geschickter Mann. Die Idee mit dem ›Ausleihen‹ ist genial. Die Sache bis zur Krönung hinziehen, und dann ist schon alles egal.«
»Aber … Aber das ist doch ungeheuerlich!« entfuhr es mir.
»Ja, vom gewöhnlichen menschlichen Standpunkt ist es ungeheuerlich.« Sie berührte sacht meine Schulter. »Sie und ich, wir könnten das nicht unseren Kindern antun. Ach ja, Sie haben ja keine Kinder, nicht wahr?« Sie seufzte und sprach dann mit ihrer reinen klingenden Stimme das aus, was ich selbst so manches Mal gedacht hatte. »In einem Herrscherhaus geboren zu sein ist ein besonderes Schicksal. Es gewährt unglaubliche Privilegien, fordert aber auch die Bereitschaft zu unglaublichen Opfern. Ein Skandal während der Krönungsfeierlichkeiten ist undenkbar und darf unter keinen Umständen zugelassen werden. Den Verbrechern eine der wichtigsten Regalien des Reiches auszuliefern ist erst recht undenkbar. Das Leben eines der achtzehn Großfürsten zu opfern ist jedoch sehr wohl denkbar. Das weiß natürlich auch Georgie. Was ist ein vierjähriger Junge gegen das Schicksal der Dynastie?«
Aus den letzten Worten sprach Kummer, aber auch echte Größe. Die Tränen, die mir in den Augen standen, rannen nicht die Wangen hinab. Ich weiß nicht, warum, aber ich fühlte mich beschämt.
Es klopfte an die Tür, und die englische Nanny führte allerliebste Zwillinge herein, die dem Großfürsten Georgi sehr ähnlich sahen – rosig und pausbackig, mit lebhaften braunen Augen.
»Gute Nacht, Mami«, plapperten sie, liefen auf die Ballerina zu und fielen ihr um den Hals.
Mir schien, daß sie die Kinder inniger umarmte und küßte, als es das Ritual verlangte.
Die Knaben wurden hinausgeführt, sie schloß die Tür und sagte zu mir: »Afanassi, Sie haben nah am Wasser gebaut. Hören Sie sofort auf, sonst muß ich auch heulen. Das passiert mir nicht oft, aber wenn ich erst mal anfange, finde ich so bald kein Ende.«
»Verzeihen Sie«, murmelte ich und kramte in der Tasche nach einem Tuch, doch die Finger gehorchten mir schlecht.
Da trat sie zu mir, zog aus ihrer Manschette ein Spitzentüchlein und tupfte mir die Wimpern ab, sehr vorsichtig, als fürchte sie, Schminke zu verschmieren.
Plötzlich wurde an die Tür geklopft – nachdrücklich, laut.
»Isabeau! Mach auf, ich
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