Entführung des Großfürsten
vorbei wäre«, sagte sie mit einer Beherrschung, die mich begeisterte. »Lange wird Michel das nicht mehr aushalten. Er ist ein kräftiges, gesundes Kind, aber alles hat seine Grenzen.«
»Haben Sie Lind gesehen? Wenigstens aus dem Augenwinkel?« fragte ich hoffnungsvoll.
»Nein. Man hat mir die Binde nicht länger als zehn Sekunden abgenommen und mir aufs strengste verboten, mich umzudrehen. Ich habe nur gespürt, daß hinter mir einige Leute standen.«
Mir krampfte sich das Herz zusammen.
»Dann gibt es überhaupt keine Fortschritte?«
Mademoiselle und Fandorin wechselten einen – wie mir schien – verschwörerischen Blick, und das tat mir fast körperlich weh: Sie waren zu zweit, zusammen, und ich blieb abseits, allein.
»Etwas haben wir doch«, sagte Fandorin mit rätselhafter Miene und fügte mit gesenkter Stimme hinzu, als teile er ein wichtiges Geheimnis mit: »Ich habe Emilie beigebracht, das Knirschen der Räder zu zählen.«
Im ersten Moment begriff ich nur eines – er nannte Mademoiselle beim Vornamen! War ihre Freundschaft schon so weit gediehen? Erst dann versuchte ich die Bedeutung der gesagten Worte zu erfassen. Vergeblich.
»Das Knirschen der Räder?«
»Nun ja. Jede Achse, auch wenn sie ideal geschmiert ist, gibt ein Knirschen von sich, das bei genauem H-Hinhören eine zyklische Wiederholung von immer gleichen Geräuschen ist.«
»Und weiter?«
»Ein Zyklus, Sjukin, das ist eine Umdrehung. Man braucht nur noch zu zählen, wie oft sich das Rad dreht, dann weiß man, welche Entfernung die Kutsche zurückgelegt hat. Die Räder des Kutschentyps, den die E-Entführer bevorzugen, haben ein Standardmaß – ein Meter vierzig im Durchmesser. Der Kreisumfang beträgt also nach den Gesetzen der Geometrie vier Meter und achtzig Zentimeter. Der Rest ist einfach. Mademoiselle zählt die Anzahl der Umdrehungen von Ecke zu Ecke und merkt sie sich. Ein Abbiegen der Kutsche ist leicht an ihrer Neigung nach rechts oder links zu erkennen. Wir verfolgen die Kutsche nicht, um die Verbrecher nicht zu warnen, aber wir sehen, welche Richtung sie zu Beginn einschlägt. Das W-Weitere hängt von Emilies Aufmerksamkeit und Gedächtnis ab. Wenn wir also«, fuhr Fandorin mit der Stimme eines Lehrers fort, der eine Geometrieaufgabe vorträgt, »die Anzahl und die Richtung der Kurven wissen, außerdem den A-Abstand zwischen den Kurven, können wir den Ort ermitteln, an dem der Junge versteckt wird.«
»Und, haben Sie ihn ermittelt?« rief ich in freudiger Erregung.
»Nicht so schnell, Sjukin, nicht so sch-schnell«, sagte Fandorin lächelnd. »Der schweigsame Kutscher fährt absichtlich nicht auf geradem Wege, sondern schlägt Haken, wohl um sicherzugehen, daß er keinen ›Schwanz‹ hinter sich herzieht. Also ist Emilies Aufgabe sehr kompliziert. Gestern und heute bin ich mit ihr zu Fuß den Weg der Kutsche nachgegangen und habe ihre Beobachtungen mit der G-Geographie verglichen.«
»Und?« fragte ich, während ich mir vorstellte, wie Mademoiselle mit dem eleganten Kavalier Arm in Arm durch die Straßen ging. Beide waren durch die gemeinsame Sache miteinander verbunden, indessen ich als nutzloser Klotz im Bett lag.
»Beide Male ist die Kutsche, nachdem sie kreuz und quer durch S-Seitengassen gefahren ist, auf dem Subowskaja-Platz herausgekommen. Das wird auch durch die Wahrnehmungen Emilies bestätigt, die an dieser Stelle der Fahrt den Lärm zahlreicher Equipagen und Stimmengewirr gehört hat.«
»Und weiter?«
Mademoiselle sah verwirrt zu Fandorin (dieser kurze, vertrauensvolle Blick kratzte wieder an meinem Herzen) und sagte, als wolle sie sich rechtfertigen: »Monsieur Sjukin, gestern konnte ich mir elf Kurven merken, heute dreizehn.« Sie kniff die Augen ein und zählte stockend auf: »Zweiundzwanzig, nach links; einundvierzig, nach rechts; vierunddreißig, nach links; achtzehn, nach rechts; neunzig, nach links; vierzehn, nach rechts; hundertdreiundvierzig, nach rechts; siebenunddreißig, nach rechts; fünfundzwanzig, nach rechts; hundertfünfzehn, nach rechts (und hier, ungefähr beider fünfzigsten Umdrehung, der Lärm eines Platzes); zweiundfünfzig, nach links; sechzig, nach rechts; dann wieder nach rechts, aber wie oft, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich habe mir große Mühe gegeben, bin aber trotzdem durcheinandergekommen.«
Ich war erschüttert.
»Mein Gott, wie konnten Sie sich das alles merken?«
»Vergessen Sie nicht, mein Freund, ich bin Lehrerin.« Sie lächelte weich, und ich
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