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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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gastfreundlichen Hausherrn ansteht. Doch die Anstrengungen waren vergeblich: Großfürst Pawel saß finster da und rührte kein Essen an, trank nur Wein; Großfürstin Xenia wirkte geistesabwesend; Mylord und Mr. Carr sahen einander nicht an, lachten aber übertrieben laut über die Scherze des Leutnants. Immer wieder traten lastende Pausen ein, deutliches Zeichen für einen mißlungenen Abend.
    Mir schien, daß über der Tafel unsichtbar der Schatten des unglücklichen kleinen Gefangenen schwebte, obwohl er mit keinem Wort erwähnt wurde. Offiziell waren die Engländer von dem Vorfall nicht unterrichtet, denn das hätte bedeutet,das Geheimnis in ganz Europa bekanntzumachen. Bislang wurde das Thema nicht berührt, es existierte nicht. Als Ehrenmänner würden Lord Banville und Mr. Carr schweigen. Und sollten sie doch etwas ausplaudern, dann privat, im engen Kreis. Das würde zwar Gerüchte in Gang setzten, aber nicht mehr. Und über Gerüchte habe ich mich schon geäußert.
    Ich stand hinter dem Stuhl des Großfürsten Georgi und gab den Lakaien Zeichen, wenn etwas auf- oder abzutragen war. Doch mit meinen Gedanken war ich weit weg. Ich sann darüber nach, wie ich meine ungewollte Schuld vor dem kleinen Gefangenen wiedergutmachen, wie ich zu seiner Rettung beitragen könnte. Und außerdem – ich will es nicht verhehlen – mußte ich immer wieder an den vertrauensvollen und sogar begeisterten Blick denken, mit dem Mademoiselle Déclic Fandorin angesehen hatte,
Erast
. Ich stellte mir vor, daß sie mich, wäre ich der Retter des kleinen Großfürsten, genauso (vielleicht noch begeisterter) ansehen würde. Natürlich war das dumm. Dumm und unwürdig.
    »Warum ausgerechnet ich?« fragte mit gesenkter Stimme Großfürst Pawel. »Du hast doch versprochen, die beiden heute abend in die Oper zu begleiten.«
    »Ich kann nicht«, antwortete ebenso leise Großfürst Georgi. »Du gehst.«
    Im ersten Moment – wohl weil ich an anderes dachte – glaubte ich, plötzlich Englisch zu verstehen (denn das Tischgespräch wurde natürlich in dieser Sprache geführt), und ich begriff erst später, daß diese Sätze auf russisch gesagt worden waren.
    Großfürst Pawel sprach mit fröhlicher Stimme und verzog die Lippen zu einem Lächeln, aber seine Augen waren bitterböse.Sein Vater sah ihn wohlwollend an, doch ich bemerkte, wie sein Nacken rot anlief, und das verhieß nichts Gutes.
    Großfürstin Xenia saß zu dieser Zeit nicht mehr am Tisch – sie hatte sich unter dem Vorwand einer leichten Migräne zurückgezogen.
    »Ist es deshalb, weil
sie
angekommen ist?« fragte, noch immer lächelnd und dabei die Engländer anblickend, Großfürst Pawel. »Du willst zu ihr ins ›Loskutnaja‹?«
    »Das hat dich nicht zu kümmern, Pollie.« Großfürst Georgi rauchte paffend eine Zigarre an. »Du gehst in die Oper.«
    »Nein!« rief Großfürst Pawel, und zwar so laut, daß die Engländer zusammenzuckten.
    Endlung schnatterte sofort auf englisch los. Großfürst Georgi lachte und gab auch etwas zum besten. Dann legte er seine gewaltige Rechte väterlich dem Sohn auf die Hand und knurrte: »Entweder in die Oper oder nach Wladiwostok. Das ist mein Ernst.«
    »Meinetwegen nach Wladiwostok oder auch zum Teufel!« antwortete Großfürst Pawel mit honigsüßer Stimme und tätschelte nun seinerseits dem Vater liebevoll die Hand, so daß ein Außenstehender diese Familienszene einfach rührend finden mußte. »Und in die Oper kannst du selber gehen.«
    Mit Wladiwostok wurde in der Familie recht häufig gedroht. Jedesmal, wenn Großfürst Pawel in eine Affäre geriet oder auf andere Weise die Unzufriedenheit seiner Eltern erregte, drohte Großfürst Georgi, ihn kraft seiner Befugnis als General-Admiral zum Pazifik-Geschwader abzukommandieren, auf daß er dem Vaterland diene und Vernunft annehme. Doch bislang war es nicht dazu gekommen.
    Im weiteren wurde ausschließlich englisch gesprochen,aber meine Gedanken gingen jetzt in eine ganz andere Richtung.
    Ich hatte eine Idee.
    Das Wesen des Streits zwischen Vater und Sohn, das selbst jemand, der Russisch beherrschte, schwerlich verstanden hätte, war mir völlig klar.
    Isabella Felizianowna Sneshnewskaja war angereist und im Hotel »Loskutnaja« abgestiegen.
    Sie würde mir helfen!
    Frau Sneshnewskaja war die klügste Frau, die ich kannte, und ich hatte Gelegenheit gehabt, Kaiserinnen, aristokratische Löwinnen und regierende Königinnen zu erleben.
    Die Laufbahn der Tänzerin war so bizarr und

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