Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
die Kräfte waren ungleich verteilt. Bald standen wir Seite an Seite, und jeder von uns wurde von einem guten Dutzend Hände festgehalten.
    Ringsum haßerfüllte Gesichter.
    »Sittenwächter, Dragoner, Schweine! Opritschniks! Schlagt sie tot, so wie sie unsereins totschlagen!«
    Neue Schläge prasselten auf mich nieder. Ich hatte einen salzigen Geschmack im Mund, ein Zahn wackelte.
    »In die ›Folterkammer‹ mit ihnen, sollen sie dort verfaulen!« rief jemand. »Zur Abschreckung für andere!«
    Dieser unheildrohende Vorschlag schien allen zu gefallen.
    Wir wurden in den Korridor geschleift und von dort eine schmale Treppe hinab. Ich war nur noch darauf bedacht, den Fußtritten auszuweichen, Endlung hingegen fluchte auf Seemannsart und kämpfte um jede Stufe. Schließlich trugen sie uns durch einen trüb beleuchteten fensterlosen Gang und warfen uns in ein dunkles Gelaß. Ich knallte mit dem Rücken schmerzhaft auf den Fußboden, hinter uns schlug die Eisentür zu.
    Als sich meine Augen ein wenig an die Finsternis gewöhnt hatten, sah ich in der hinteren oberen Ecke ein kleines graues Viereck. Ich tastete mich an der Wand dorthin. Ein Fensterchen, aber ich kam nicht heran, es war zu hoch.
    Ich drehte mich in die Richtung, wo ich Endlung vermutete, und fragte: »Sind die verrückt geworden, diese Herren? Was denn für Dragoner? Was für Sittenwächter?«
    Der im Dunkeln unsichtbare Leutnant krächzte und spuckte aus.
    »… … … … … …«, sprach er gefühlvoll Wörter aus, die ich nicht wiederholen werde. »Die haben mir den Zahn mit der Krone abgebrochen. Dragoner – das sind heterosexuelle Männer, also auch Sie und ich. Und ›Sittenwächter‹, Sjukin, das ist eine Geheimgesellschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Ehre der Dynastie und der alten russischen Geschlechter vor Schande und Verunglimpfung zu schützen.Haben Sie etwa nicht davon gehört? Vor zwei Jahren haben sie diesen … na, wie heißt er … den Komponisten, verdammt, ich hab den Namen vergessen, gezwungen, Gift zu nehmen. Weil er NN« (Endlung nannte den Namen eines jungen Großfürsten, den ich erst recht nicht wiederholen werde) flachgelegt hat. Und voriges Jahr haben sie den alten Homo Kwitkowski in die Newa geworfen, weil er hinter Jurastudenten her war. Für solche ›Sittenwächter‹ halten sie uns. Bloß gut, daß sie uns nicht gleich in Stücke gerissen haben. Jetzt werden wir allerdings in diesem Keller verdursten und verhungern. Na ja, ist ja auch Montag der Dreizehnte.«
    Der Leutnant wälzte sich auf dem Boden hin und her, wohl um sich bequemer zurechtzulegen, und bemerkte philosophisch: »Dabei hat mir ein Wahrsager in Nagasaki prophezeit, daß ich in einer Seeschlacht den Tod finde. Da soll man nun noch an Weissagungen glauben.«

 
    14. Mai
    Als ich aufwachte, war ich ganz steif vom Liegen auf dem harten und kalten, wenn auch mit einem Läufer bedeckten Steinfußboden. Am Abend zuvor war ich lange nicht zur Ruhe gekommen. Ich war an den Wänden entlanggegangen, hatte auch mit der Krawattennadel im Türschloß gestochert, bis mich schließlich die Kräfte verließen und ich mich hinlegte. Ich glaubte, nicht einschlafen zu können, und beneidete Endlung, der sorglos in der Dunkelheit schnarchte. Doch zu guter Letzt hatte auch mich der Schlaf übermannt. Ich kann jedoch nicht sagen, daß er mich erfrischt hätte – ich wachte ganz zerschlagen auf. Der Leutnant aber schlief noch immer, den Kopf in der Armbeuge. Er hatte ein dickes Fell und ließ sich nicht so leicht unterkriegen.
    Ich konnte die Schlafhaltung meines Leidensgefährten sehen, weil es in unserem Verlies nicht mehr kohlrabenschwarz war; trübes graues Licht drang von draußen herein. Ich stand auf und humpelte zu dem vergitterten Fensterchen, konnte aber nichts sehen, das Fenster ging wohl auf eine Nische unterhalb des Straßenniveaus. Daß da eine Straße war, unterlag keinem Zweifel – ich hörte gedämpftes Rädergeratter, Pferdegewieher, das Pfeifen eines Schutzmanns. Aus all dem folgte, daß es nicht mehr so früh am Morgen war. Ich zog die Taschenuhr. Fast neun. Was wird man in der Eremitage über unsere Abwesenheit denken? Ach, heute denken die Hoheitennur an eines – an die Krönung. Und wenn Großfürst Pawel später von unserer Mission erzählt, wird das nichts nützen. Denn Banville und Carr wissen nichts von unserem Unglück. Sollen wir wirklich in diesem Steinsack krepieren?
    Ich blickte mich um. Hohe finstere Decke, kahle

Weitere Kostenlose Bücher