Entführung des Großfürsten
Wände.
Plötzlich sah ich, daß die Wände überhaupt nicht kahl waren – an ihnen hingen unverständliche Gegenstände. Ich trat näher und erbebte vor Entsetzen. Zum erstenmal im Leben begriff ich, daß kalter Schweiß keine Redensart ist, sondern eine reale Naturerscheinung: Ich griff mir an die Stirn, sie war klebrig, feucht und kalt.
An den Wänden hingen in strenger geometrischer Ordnung verrostete Ketten mit Fesseln, grausige dornige Knuten, siebenschwänzige Peitschen und sonstige Folterwerkzeuge.
Wir waren tatsächlich in einer Folterkammer!
Ich halte mich nicht für einen Feigling, aber in dem Moment entfuhr mir ein Schrei des Grauens.
Endlung riß den Kopf hoch, blinzelte verschlafen und sah sich um. Dann sagte er gähnend: »Guten Morgen, Afanassi Stepanowitsch. Sagen Sie mir bloß nicht, daß er keineswegs gut ist. Ich sehe es ohnehin an Ihrem verzerrten Gesicht.«
Ich zeigte mit zitterndem Finger auf die Folterwerkzeuge. Der Leutnant erstarrte mit aufgerissenem Mund, ohne sein Gähnen zu beenden. Dann stieß er einen Pfiff aus, erhob sich behende und nahm von der Wand zuerst die Fesseln, dann die schreckliche Peitsche. Er drehte sie hin und her und schüttelte den Kopf.
»Ach, was für Spaßvögel. Schauen Sie sich das an.«
Ich nahm ängstlich die Peitsche in die Hand und sah, daß sie nicht aus Leder war, sondern aus leichter weicher Seide.Die Ketten waren auch Attrappen, und die eisernen Reifen für Handgelenke und Fußknöchel waren innen mit dickem gestepptem Stoff ausgeschlagen.
»Wozu ist das?« fragte ich fassungslos.
»Ich nehme an, dieser Raum ist für sado-masochistische Spiele bestimmt«, erklärte Endlung mit Kennermiene.
»Was für Spiele?«
»Sjukin, wie kann man bloß so begriffsstutzig sein, und das bei Ihren Talenten. Die Menschen teilen sich in zwei Kategorien.« Er hob belehrend den Zeigefinger. »In solche, die gern andere quälen, und in solche, die sich gern quälen lassen. Erstere heißen Sadisten, letztere Masochisten, warum, weiß ich nicht mehr. Sie zum Beispiel sind zweifellos ein Masochist. Ich habe gelesen, daß gerade Masochisten häufig Diener werden. Ich dagegen bin eher ein Sadist, denn ich kann es nicht ausstehen, eins in die Fresse zu kriegen, so wie gestern. Die besten Ehe- und Freundespaare bestehen aus einem Sadisten und einem Masochisten – der eine gibt das, was der andere braucht. Kürzer gesagt, ich verdresche und beleidige Sie, und Ihnen macht das Laune. Verstanden?«
Nein, ich hatte überhaupt nichts verstanden, aber mir fielen die rätselhaften Worte der Nymphe ein, also könnte Endlungs Theorie ein Körnchen Wahrheit enthalten.
Hinsichtlich der Peitschen und Ketten war ich beruhigt, aber es blieben genug andere Dinge, die mich peinigten.
Erstens das eigene Schicksal. Wollte man uns hier wirklich verhungern und verdursten lassen?
Wir traten zu der Außenwand, der Leutnant stellte sich auf meine Schultern und schrie mit kräftiger Stimme lange gegen das Fenster, aber offensichtlich hörte man uns draußen nicht. Dann hämmerten wir gegen die Tür. Sie war innen mitFilz gepolstert, und die Schläge gingen ins Leere. Von draußen drang kein Laut herein.
Zweitens bedrückte mich die groteske Situation. Gestern sollte Mademoiselle Déclic Linds Versteck ausfindig machen. Heute würde Fandorin die Operation zur Befreiung des Großfürsten Michail leiten, und ich saß hier wie die Maus in der Falle, und zwar aus eigener Dummheit.
Nun, und drittens hatte ich einen Mordshunger. Schließlich hatte ich gestern nicht zu Abend gegessen.
Unwillkürlich stieß ich einen Seufzer aus.
»Sjukin, Sie sind ein prima Kerl«, sagte der vom Schreien etwas heisere Endlung. »Wie ich immer zu sagen pflege: Stille Wasser sind tief. Frauenheld, verwegener Kumpel, kein Jammerlappen. Haben Sie das Lakaienleben nicht satt? Kommen Sie doch als Kammeroffizier zu uns auf die ›Retwisan‹. Unsre Jungs werden Sie mit offenen Armen aufnehmen, immerhin sind Sie der Haushofmeister eines Großfürsten. Wir werden den anderen Schiffen den Rang ablaufen. Nein, wirklich. Wechseln Sie vom Hof- zum Seedienst, das läßt sich arrangieren. Sie werden als Ebenbürtiger in die Offiziersmesse aufgenommen. Wie lange wollen Sie noch anderen Leuten Kaffee einschenken? Wir werden herrlich über die Meere schippern, wahrhaftig. Ach, Sjukin, Sie waren nicht in Alexandria!« Der Leutnant verdrehte die Augen. »Himmeldonnerwetter, was für Bordelle! Bei Ihrem Geschmack für Miniaturen muß
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