Entfuehrung nach Gretna Green
seinem Blick aus. „Das habe ich auch nicht behauptet.“
„Du hast es aber gedacht. Das habe ich in deinen Augen gelesen.“
Verstohlen sah sie ihn von der Seite an. Sie hatte es tatsächlich gedacht. Und zwar ziemlich laut, nach Gregors mür-rischem Gesichtsausdruck zu schließen. Verdammt noch mal, was war nur aus ihrer entspannten Freundschaft geworden? Seit seiner Ankunft hatten sie sich ständig in den Haaren gelegen, und sie hatte keine Ahnung, warum.
Natürlich war es hauptsächlich seine Schuld; er hatte sich Ravenscroft gegenüber sehr unhöflich verhalten und damit ihren Beschützerinstinkt geweckt. Missmutig wünschte sie sich, sie hätte nicht ganz so heftig reagiert und sich nicht so deutlich auf Ravenscrofts Seite gestellt, denn sie war sicher, dass sich Gregor darüber geärgert hatte. Aber was hätte sie denn sonst tun sollen, nachdem er sie praktisch einen Dummkopf und noch Schlimmeres genannt hatte?
„Ich weiß nicht, was zwischen uns geschehen ist, seit wir hier angekommen sind, Gregor“, stellte sie seufzend fest. „Irgendwie scheinen wir aus dem Tritt gekommen zu sein.“
Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. „Vielleicht ist es einfach so, dass wir einander unter veränderten Umständen neu kennenlernen.“
„Was meinst du damit?“
„In der Vergangenheit haben wir Zeit miteinander verbracht, weil unser Leben dadurch weniger langweilig war. Nun aber müssen wir gemeinsam etwas erreichen - vor allem müssen wir deinen guten Ruf retten. Was etwas völlig anderes ist, als gemeinsam einen Galopp durch den Park zu genießen.
„Das erklärt aber nicht, warum du plötzlich der Meinung bist, ich hätte meinen gesunden Menschenverstand verloren.“ Er lächelte sie schief an. „Ich glaube nicht, dass du deinen gesamten Verstand verloren hast, nur einen Teil davon.“
Es gelang ihr nicht, sein Lächeln zu erwidern. Etwas anderes hatte sich ebenfalls geändert. Es hatte mit dem Kuss zu tun, den keiner von ihnen gewillt war zu erwähnen. Seit ihrer Kindheit waren sie Freunde gewesen, sie hatte miterlebt, wie er mit neun Jahren vom Pferd gefallen war und sich dabei einen Zahn ausgeschlagen hatte, und er hatte sie von oben bis unten mit Matsch bedeckt gesehen, nachdem sie aus dem Fenster geklettert war, um einer ihrer gehassten Tanzstunden zu entgehen. Diese Ereignisse und Hunderte ähnlicher hatten sie davor geschützt, jemals verklärte Gefühle füreinander zu entwickeln. Bei dem Gedanken an die turbulente und lautstarke Bezie-hung ihrer Eltern zog Venetia eine Grimasse. Sie würde sich für etwas so Dummes wie „die große Leidenschaft“ nicht zum Narren machen, falls so etwas überhaupt existierte - noch dazu mit Gregor.
Schließlich hatte sie gesehen, wie er auf die liebeskranken Frauen in London reagierte, die seinem umwerfenden Lächeln und seinen strahlend grünen Augen erlegen waren, und sie hatte nicht vor zu erleben, wie er eines Tages vor ihr zurückschreckte und das Weite suchte. Sie hatte ihr Herz vor ihm beschützt, indem sie sich immer wieder jeden seiner Fehler bewusst gemacht hatte und sich selbst zur Ordnung rief, wenn ihre Fantasie doch einmal außer Kontrolle geriet. Aber nun, nach nur einem Kuss, schien der Panzer, den sie sich zu ihrem Schutz angelegt hatte, so wenig Widerstand zu bieten wie ein Vorhang aus dünner Seide.
Sie straffte ihre Schultern und schüttelte das ungute Gefühl ab. Es war gar nichts. Wenn sie erst einmal zurück in London waren, würde alles wieder sein wie zuvor, und sie konnten mit ihrer fröhlichen, entspannten Freundschaft fortfahren. Alles, was sie tun musste, war, die seltsame Spannung zwischen ihnen unter Kontrolle zu halten und nicht zu groß werden zu lassen, bis sie aus dieser Situation hier heraus waren. Unter ihren Wimpern hervor schaute sie ihn an.
Unglücklicherweise war sie sich seiner körperlichen Gegenwart immer noch quälend bewusst und konnte nicht anders als zu bemerken, dass er sein Halstuch zu einem lässigen Knoten geschlungen hatte, was ihm besonders gut stand. Trotz ihrer guten Vorsätze ertappte sie sich bei der Vorstellung, wie sie mit den Fingerspitzen, oder besser noch mit den Lippen, der Linie seiner Kehle folgte.
Dieser Gedanke ließ mehrere aufeinanderfolgende Schauer durch ihren Körper laufen.
„Venetia?“, fragte er mit warmer, besorgter Stimme. Er beugte sich zu ihr herunter, und sein Blick wurde dunkler, als er eine ihrer Hände in seine nahm. „Ist dir kalt? Vielleicht sollten wir besser ins Haus
Weitere Kostenlose Bücher