Entfuehrung nach Gretna Green
ehrenwerter Gentleman, ganz gleich, was der Squire über ihn denkt“, erklärte Miss Platt mit energisch vorgeschobenem Kinn. „Normalerweise kommt es nicht oft vor, dass ich jemanden nicht mag, aber der Squire ist so schrecklich aufgeblasen! Deshalb bin ich auf der Seite der armen Miss Higganbotham.“
Venetia dachte ebenso. Das bedauernswerte Mädchen war von der Seite des Mannes weggerissen worden, den es liebte, nur um Opfer eines schrecklichen Unfalls zu werden, nach dem es nun blau und grün und völlig durchgefroren war. Schlimmer noch, als sie und ihr Vater endlich ein Obdach gefunden hatten, waren sie von Gregor mit einer eisigen Kälte empfangen worden, die es mit der jener Schneewehe aufnehmen konnte, die ihren Unfall verursacht hatte.
Gedankenverloren starrte Venetia vor sich hin. Sie konnte nicht glauben, dass Gregor wirklich so wenig Mitgefühl für seine Mitmenschen hatte.
„Miss West?“
Als Venetia sich umdrehte, stand Miss Platt direkt neben ihr. „Ja?“
Die dünne Frau faltete die Hände und sah Venetia mit glühenden Augen an. „Ich muss Ihnen einfach danken!“
„Wofür denn, um alles in der Welt?“
„Dafür, dass Sie mir gesagt haben, es könnte noch andere Wege und Möglichkeiten für mich geben. Nachdem Bertrand in diese schreckliche Lage geraten war, hatte ich jede Hoffnung aufgegeben. Aber heute, beim Frühstück, hat Mr. Ravens-croft...“ Miss Platt stockte, und auf jeder ihrer Wangen zeigte sich ein kreisrunder, knallroter Fleck. „Ich hätte diesen Mann nie wahrgenommen, wie ich ihn jetzt sehen kann, wenn Sie nicht vor dem Frühstück mit mir geredet hätten. Und dafür möchte ich Ihnen danken. Sie haben mir geholfen zu begreifen, dass es im Leben noch mehr gibt, als herumzulaufen und Mrs. Bloom zu bedienen.“
Venetia beugte sich vor und umarmte sie herzlich. „Ich bin sehr froh, Sie lächeln zu sehen.“
„Vielen Dank! Ich wünschte, ich könnte hierbleiben und helfen, aber ich muss zurück zu Mrs. Bloom, weil heute Morgen noch einige Näharbeiten zu erledigen sind.“
Im Stillen fragte sich Venetia, wie viele Stiche Miss Platt wohl tun musste, bevor Mrs. Bloom meinte, die Schuld sei abgearbeitet.
Miss Platt tätschelte dankbar Venetias Schulter, dann verließ sie mit hoch erhobenem Kopf und einem Lächeln in den Augen das Zimmer.
Als die Tür ins Schloss fiel, zuckte Miss Higganbotham auf dem Bett zusammen und drehte sich auf die Seite. Dabei öffnete sie den Mund, und aus ihrer Kehle kam ein lautes Schnarchen. Venetia hielt den Atem an und wartete, aber das Schnarchen wurde nicht leiser.
Sie zog eine Grimasse. Obwohl das Mädchen mit seinen goldenen Locken und den langen Wimpern wie ein Engel aussah, schnarchte es wie ein alter Bulle - was Venetia für die kommende Nacht keinen sonderlich ruhigen Schlaf verhieß.
Bei der Vorstellung, was Gregor wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er das Schnarchen der zarten Miss Higganbotham hörte, musste Venetia grinsen. Gregor und sie hatten denselben Sinn für Humor; das war eines der vielen Dinge, die sie teilten.
Es tat gut, sich daran zu erinnern, stellte sie fest. In letzter Zeit waren Gregor und sie solche Dummköpfe gewesen und hatten immer nur gestritten.
Bei dem Gedanken musste sie leise seufzen. Sie spürte eine große innere Unruhe, und ihr wurde bewusst, dass sie den ganzen Tag nicht im Freien gewesen war. Kein Wunder, dass sie sich nicht wohlfühlte.
Nachdem sie einen kurzen Blick auf das schnarchende Mädchen in ihrem Bett geworfen hatte, tauschte Venetia ihre Schuhe gegen Stiefeletten, griff nach ihrem Mantel, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Noch bevor sie unten an der Treppe ankam, hörte sie aus dem Gastraum die Stimmen von Ravenscroft und dem Squire. Sie bedauerte Ravenscroft, der sich das Geschwafel des Squires anhören musste, doch ihr Mitleid ging nicht so weit, dass sie sich selber als Opfer zur Verfügung gestellt hätte. Sei knöpfte ihren Mantel bis zum Hals zu, klappte den Kragen bis über die Ohren hoch und trat aus der Vordertür ins Freie.
Der Schnee funkelte frisch und sauber in der Sonne. Zwar war die Luft immer noch eisig, doch nicht mehr ganz so kalt wie am Tag ihrer Ankunft. Sie zog ihre Röcke hoch, damit sie nicht nass wurden, und ging auf dem schneebedeckten Weg zum Stall, wobei sie lächelnd die herrlich klare Luft einatmete.
Die Stallungen waren in einer großen Scheune untergebracht, in der es zehn Pferdeboxen und dahinter eine ziemlich
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