Enthüllung
fielen beide in Schweigen. Nach einer Weile schob Mary Anne ihren Stuhl zurück und stand auf.
»Bis später, Tom.«
»Bis später, Mary Anne.«
Er wußte, wie ihr zumute war. So war ihm selbst zumute gewesen, wenn jemand in der Firma der Belästigung beschu l digt worden war. Plötzlich gab es da eine Distanz. Egal, wie lange man den Menschen schon kannte, egal, ob man mit ihm befreundet war oder nicht. Wenn die Beschuldigung einmal ausgesprochen war, zogen sich alle zurück. Denn niemand wußte mit Sicherheit, was sich wirklich abgespielt hatte. Und man konnte es sich nicht leisten, eine bestimmte Seite zu unterstützen – nicht einmal die eines Freundes.
Er sah ihr nach, dieser schlanken, durchtrainierten Frau im Jogginganzug, mit dem Aktenkoffer aus Leder in der Hand. Sie war kaum 1 Meter 50 groß, und alle Männer auf der Fähre wirkten auf geradezu groteske Weise viel größer und breiter. Ihm fiel ein, daß Mary Anne Susan einmal erzählt hatte, sie habe mit dem Joggen begonnen, weil sie sich so vor einer Vergewa l tigung fürchtete. »Ich laufe dem Kerl einfach davon«, hatte sie gesagt. Und in der Tat waren diese Dinge Männern völlig fremd. Solche Ängste konnten sie nicht verstehen.
Aber es gab eine andere Angst, eine, die nur Männer em p fanden. Mit wachsendem Widerwillen betrachtete er die Zeitungskolumne. Schlagwörter und einzelne Phrasen sprangen ihm entgegen.
Rachsüchtig … knallhart … erträgt es nicht, eine Frau … eklatante Bösartigkeit … Vergewaltigung … von Männern begangenes Verbrechen … seine Chefin fertigmachen … ohne eigenes Verschulden gefährdet … Schweine in ihrem Verschlag.
Diese Kennzeichnungen waren mehr als nur unrichtig, mehr als nur unerfreulich. Sie waren gefährlich. Ein gutes Beispiel dafür war das, was John Masters zugestoßen war – eine G e schichte, die vor allem unter den älteren Männern von Seattle lange das Gesprächsthema Nummer eins gebildet hatte.
M asters war 50 und Marketingmanager bei Microsoft. Ein solider Kerl und braver Bürger, seit 25 Jahren verheiratet, zwei Kinder. Die ältere Tochter geht aufs College, die jüngere besucht die dritte Klasse der High-School. Nun bekommt die jüngere Tochter plötzlich Schwierigkeiten in der Schule, ihre Noten werden schlecht. Also schicken die Eltern sie zu einer Psychologin. Die Psychologin hört der Tochter zu und sagt dann: Weißt du, das ist die typische Geschichte eines mi ß brauchten Kindes. Ist jemals etwas in dieser Art bei dir vorg e kommen?
Ach du lieber Himmel! sagt das Mädchen. Nein, ich glaube nicht.
Versuch dich zu erinnern, sagt die Psychologin.
Zuerst weigert sich das Mädchen, aber die Psychologin drängt sie: Versuch dich zu erinnern! Und nach einiger Zeit beginnt das Mädchen sich vage zu erinnern. Es ist nichts Besonderes, aber sie hält es plötzlich für möglich. Vielleicht hat Daddy damals tatsächlich was Unrechtes getan!
Die Psychologin erzählt der Ehefrau von ihrem Verdacht. Nach 25 gemeinsamen Jahren kommt es zwischen Masters und ihr erstmals zu einem schweren Konflikt. Denn die Frau geht zu Masters und sagt: Gib zu, was du getan hast!
Masters ist völlig von den Socken. Er kann es nicht fassen. Er streitet alles ab. Die Frau sagt: Du lügst, ich will dich nicht mehr sehen. Sie zwingt ihn auszuziehen.
Die ältere Tochter eilt vom College nach Hause und sagt zu ihrer Mutter: Was soll dieser Wahnsinn? Du weißt doch, daß Daddy nichts getan hat. Komm endlich wieder zur Vernunft! Aber die Frau ist wütend. Die Tochter ist jetzt auch wütend. Und was einmal ins Rollen gekommen ist, läßt sich nun nicht mehr aufhalten.
Die Gesetze des Bundesstaates schreiben der Psychologin vor, jeden Verdacht auf Mißbrauch zu melden. Also benachrichtigt sie die bundesstaatliche Jugendbehörde von ihrem Verdacht gegen Masters. Der Staat ist verpflichtet, eine Untersuchung durchzuführen. Jetzt unterhält sich eine Sozialarbeiterin mit der Tochter, der Ehefrau und mit Masters selbst, mit dem Hausarzt der Familie und mit der Schulärztin. Bald weiß es jeder.
Auch Microsoft kommen die Anschuldigungen zu Ohren. Die Firma suspendiert Masters und macht ihr weiteres Vorgehen davon abhängig, wie die Sache endet. Und es heißt, man wolle jedes Aufsehen in der Öffentlichkeit vermeiden. Masters sieht sein Leben in sich zusammenbrechen. Seine jüngere Tochter spricht nicht mehr mit ihm. Seine Frau spricht nicht mehr mit ihm. Er lebt allein in einem Apartment. Er hat finanzielle
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