Entrissen
Gesellschaften: Erziehung war keine Privatsache. Es war der Staat, der die Leitziele vorgab »zur sozialistischen Einstellung zum Leben und zur Arbeit«, »zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens«, zum »sozialistischen Patriotismus und Internationalismus«. So galt als wichtigste Funktion der Familie, Kinder zu »gesunden und lebensfrohen, tüchtigen […] Menschen, zu aktiven Erbauern des Sozialismus« zu formen.
Diese staatsbürgerliche Aufgabe delegierte das Regime an die Erziehungsberechtigten jedoch nur, solange sie den Erfordernissen gerecht wurden. Lediglich die im sozialistischen Sinne gut funktionierende Familie galt als Garant für die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung. Gab es Zweifel an der politisch-erzieherischen Grundhaltung der Eltern, so waren die Jugendhilfestellen angehalten, den Erziehungsberechtigten Auflagen zu erteilen. Aber auch Kollegen, Nachbarn, Verwandte hatten das Recht, Auffälligkeiten im Verhalten von Eltern und Kindern zu melden, ohne der Verletzung der Privatsphäre geziehen zu werden.
Als Pflichtverstoß galt die »bewusste staatsfeindliche Beeinflussung« der Kinder, etwa wenn ihnen erlaubt war, »westliche Hetzsendungen« zu hören, oder verboten wurde, an Pioniernachmittagen teilzunehmen. Zeigten die Erziehungsberechtigten wenig Bereitschaft, den Anordnungen Folge zu leisten, so drohten familienrechtliche Konsequenzen, im Extremfall bedeutete das den Entzug des Erziehungsrechts.
Bei solchen Verstößen blieb es den Behörden vorbehalten, Minderjährige der Familie befristet oder auf Dauer wegzunehmen und sie Pflegefamilien oder staatlichen Einrichtungen zu überantworten, die als Kaderschmieden für den sozialistischen Nachwuchs galten. Dort sollten die Kleinen nicht nur mit dem Marxismus-Leninismus und den »revolutionären Traditionen der Arbeiterklasse« vertraut gemacht werden, hier sollten sie auch die »Liebe zur Deutschen Demokratischen Republik« und den »leidenschaftlichen Hass gegen die imperialistischen Feinde unseres Volkes« lernen.
Bei notorischer Unbelehrbarkeit konnte den betroffenen Eltern das Erziehungs- und Sorgerecht auch dauerhaft entzogen werden. In letzter Instanz war es der Staat, der über das vermeintliche Wohl und Wehe der Kinder verfügte. Als Nebeneffekt zielte die staatliche Vermittlung von Heimkindern an Adoptiveltern auch auf die Stabilisierung von deren Ehe durch die unverhoffte Erfüllung ihres Kinderwunsches.
Um die Zustimmung der leiblichen Eltern zur Adoptionsfreigabe zu erhalten, wurden diese in vielen Fällen erheblich unter Druck gesetzt. Oft wurden sie ganz offen mit der Androhung von Repressalien gegen sich, ihre Angehörigen oder ihre Kinder erpresst. Doch selbst wenn Eltern standhaft blieben, konnten sich die zuständigen Stellen über die vorgeschriebene Adoptionsfreigabe hinwegsetzen, mit dem schlichten Verweis auf das Wohl des Kindes. Wer das Gebiet der DDR illegal verlassen hatte, dessen Kinder waren ohnehin der Willkür des Staatsapparates ausgeliefert. Der behördlich gebilligte Nachzug in den Westen gelang nur in wenigen Fällen, üblicherweise auf Vermittlung der deutsch-deutschen Diplomatie.
Am meisten beschäftigte mich bei diesen Nachforschungen naturgemäß das Schicksal meiner eigenen Mutter. Was gab den Behörden damals Anlass, sie von ihren Kindern zu trennen? Sollte ich zu meinem Schutz vor einer Fehlentwicklung bewahrt werden? Oder hatte die Alleinerziehende der staatlichen Norm nicht Genüge getan? Ich nahm mir das Gesetz vor, auf dessen Grundlage das Gericht meine Mutter 1972 zu zwei Jahren Arbeitserziehung verurteilt hatte. »Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, dass er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist«, so hieß es in Paragraph 249 des Strafgesetzbuchs der DDR , »wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.«
In der Behördensprache trug dieses angebliche Delikt die Bezeichnung »asozial«. Treffender wäre bei näherer Betrachtung der Begriff »a-sozialistisch«. Das Verdikt galt jenen, die sich vermeintlich außerhalb der sozialistischen Gesellschaftsordnung bewegten. Dieser sogenannte Asozialen-Paragraph war dehnbar genug, um ihn in der gängigen Justizpraxis generell gegen missliebige Staatsbürger anwenden zu können.
Im Fall meiner Mutter vermutete ich eine
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