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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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was sie wollte. Sie war bislang in dem kleinen Ort Stadtroda, dreißig Kilometer westlich von Gera, berufstätig gewesen und zog es nach ihrer Scheidung nun vor, nach Gadebusch bei Schwerin umzusiedeln, um dort in der Kinderarztpraxis der örtlichen Poliklinik mitzuarbeiten. Ich hatte zwar keine Ahnung, was das Wort »Umzug« wirklich bedeutet, aber nach eineinhalb Jahren Heimaufenthalt war mir alles recht, was Abwechslung versprach. Allein die Aussicht, dass sich irgendetwas ändern würde, war mir willkommen. Zum ersten Mal seit meinem zweitägigen Ausflug in die finstere Hausmeisterwohnung lag ein neues Zuhause in greifbarer Nähe. Der angebotene Ortswechsel beinhaltete für mich den Klang von Urlaub und Abenteuer. Etwa vierhundertfünfzig Kilometer Richtung Ostseeküste, das war wie eine Weltreise für mich; bis dahin hatte ich die Stadtgrenzen von Gera noch nie verlassen. Ich hatte schon beinahe vergessen, wie sich Hoffnung anfühlt. Ohne zu zögern, willigte ich in das Angebot dieser fremden Frau ein, die mir auf Anhieb sympathisch und zudem als Ärztin auch vertrauenswürdig erschien.
    Heute weiß ich, dass sie als Aspirantin auf meine Adoption auch gegenüber den Behörden einen Vertrauensbonus benötigte. Wer nämlich den staatstragenden Auftrag erhielt, Kinder »im Sinne der gesellschaftlichen Anforderungen« zu erziehen, musste laut einer Richtlinie von Margot Honeckers Ministerium für Volksbildung »für die Interessen der Arbeiter- und Bauernmacht eintreten«. Die Jugend im sozialistischen Sinn zu erziehen, war ein herausragendes Staatsziel der DDR . Den Zuschlag für eine Adoption erhielten daher bevorzugt Bewerber, die eine Mitgliedschaft oder Funktion in der Partei, der Polizei, der Armee oder in einem staatswichtigen Betrieb, bevorzugt in der Volksbildung, vorweisen konnten. Wem keine ausreichende Systemtreue unterstellt wurde, der hatte kaum Aussichten, als Erzieher für die künftigen Hoffnungsträger des Arbeiter- und Bauernstaates ausgewählt zu werden.
    Zunächst also musste Frau Dr. Denzer ihre Bewährungsprobe absolvieren, spätere Adoption nicht ausgeschlossen. Vorerst war sie wie eine Patentante für mich. Nach unserem Umzug im Juni 1973 tauchte gelegentlich auch ein Mann in ihrem Leben auf, wenngleich stets nur als Besucher. Möglicherweise war meine geplante Adoption ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Kleinfamilie, mit der sich die Kinderärztin sehen lassen konnte. Neue Wohnung, neue Arbeitsstelle und dazu ein neues Kind … Derlei Hintergedanken kümmerten mich damals allerdings wenig.
    Das neue Zuhause in Gadebusch erschien mir anfangs wie eine Märchenwelt. Die Siedlung aus Neubaublocks war im Rahmen der damals forcierten Wohnungsbauoffensive auf der grünen Wiese hochgezogen worden. Ich empfand Stolz, zum ersten Mal in meinem Leben in einem Fahrstuhl mit einem Kribbeln im Bauch in die Höhe zu schweben. Die Wohnung war hell, großzügig und nach damaligem Standard komfortabel eingerichtet, etwa war der Boden vollständig mit Auslegeware bedeckt. Ich durfte im Arbeitszimmer der Hausherrin über ein kleines Reich ganz für mich allein verfügen. Tagsüber wurde mein Bett in eine Couch zurückverwandelt. Schreibtisch, Schränke und Regale waren mit Büchern überhäuft. Meine neue Pflegemutter war offenbar belesen.
    Frau Dr. Denzer schien sich ehrlich über meine Ankunft zu freuen, behandelte mich aufmerksam und bemühte sich zu Beginn, meine Wünsche zu berücksichtigen. Wie eine wohlmeinende Verwandte kam sie mir vor, und so nannte ich sie bald Tante. Wenn es irgend ging, vermied ich aber die direkte Anrede. Auf gar keinen Fall wollte ich in die Verlegenheit geraten, Mama oder Mutti zu ihr zu sagen. So weit sollte das neue Nestgefühl nun auch nicht gehen.
    Mit am besten gefiel mir das Frühstück auf dem Balkon, der einen Blick aus der Vogelperspektive auf die umliegenden Neubauten freigab, allen voran die gerade erst eröffnete Schule gegenüber. Mit großer Anteilnahme verfolgte ich von meinem Hochsitz aus das muntere Treiben auf dem Pausenhof. Welch ein Kontrast zum Kellerloch in der Geraer Oberschule!
    Was für mich jedoch ungleich wichtiger war: Gleich nebenan wohnte ein etwa gleichaltriger Junge. Endlich hatte ich wieder einen Spielgefährten. Manfred nahm mich so, wie ich war, und ich fühlte mich nicht mehr schwach und ausgeliefert. Jetzt hatte ich ja, zumindest nach außen hin, eine neue Mutter und hielt mich dadurch für weit weniger angreifbar. Bald sollte sie

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