Entrissen
dann, wie zur Entschuldigung, hinzu: »Außerdem muss ich im Kinderheim sein, wenn meine Mama kommt, um mich abzuholen. Sonst denkt sie, ich wäre nicht artig gewesen und ausgerissen.«
Vermutlich war es weniger diese Überlegung, sondern wohl eher mein banger Gemütszustand, der den Ausschlag dafür gab, dass mich das Hausmeisterehepaar noch am selben Tag wieder im Kinderheim ablieferte. Ich fühlte mich befreit und war zudem froh, meinen Bruder wiedersehen zu dürfen. Ihm wollte ich als Erstes von meinem Ausflug in das Gruselkabinett berichten, auch um den Schrecken, der mir noch in den Knochen saß, zu vertreiben. Ich lief vor dem Hausmeisterehepaar durch den Vorgarten die kleine Treppe zum Kinderheim hoch und wartete, bis eine der Erzieherinnen die schwere Eingangstür endlich öffnete. Ungeduldig drängte ich mich durch den Spalt und rief gleich nach meinem Bruder.
Alles andere war mir in diesem Moment egal. Ich achtete nicht auf die anderen Kinder, es war mir gleichgültig, was sie sagten. Meine Kurzzeitpflegeeltern, die im Büro der Heimleiterin verschwanden, hatte ich schon beinahe aus meinem Bewusstsein getilgt. Ich wollte jetzt nur Mirko sehen: »Hallo, ich bin wieder da!«, rief ich probehalber. Keine Reaktion. Vom Atrium aus stürmte ich durch die zweiflüglige Glastür in die Aufenthaltsräume. Aber auch hier konnte ich meinen Bruder nicht finden, genauso wenig wie im gesamten Erdgeschoss und im Hof. Ich rannte die abgewinkelte Holztreppe zur oberen Etage hinauf, wo sich der Schlaf- und die Waschräume befanden, durchsuchte alle Zimmer. Vergeblich. Mirko war nicht aufzufinden.
Enttäuscht stieg ich die Treppe langsam wieder hinunter. Die erstbeste Erzieherin, die mir über den Weg lief, fragte ich nach dem Vermissten, dann nach und nach das ganze Personal. Wieder schlug mir diese merkwürdig beklommene Stimmung entgegen. Wieder gab es Ausflüchte statt Antworten: »Weiß ich nicht«, »Hab ich gerade nicht gesehen«, »Der taucht schon wieder auf«. Niemand hatte eine eindeutige Auskunft für mich. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Bald war es nicht mehr zu übersehen: Mein Bruder war weg!
Nun also auch er. Verschwunden, heimlich aus dem Staub gemacht. Ich hatte noch seine Worte im Ohr: »Hab keine Angst, ich bin immer bei dir!« Und schon ließ er mich ohne Abschied im Stich. Nirgends und bei niemandem konnte ich in Erfahrung bringen, wo Mirko sich momentan befand. Ich wusste nur, dass er nicht mehr da war – und ich somit allein.
Hatte ich mir bis dahin noch einen Rest an Zuversicht bewahrt, so war diese jetzt aufgebraucht. Meine Mutter hatte versprochen, bald wiederzukommen, meine Oma, bei mir zu bleiben, mein Bruder, auf mich aufzupassen. Nun hatten sie mich allesamt verlassen – die einzigen Menschen auf der Welt, zu denen ich Zutrauen empfand. Ich fühlte mich so allein wie nie zuvor in meinem Leben. Es war niemand mehr da, der mir zu erklären vermochte, was hier vor sich ging, der mir Mut zusprechen und mir Antworten auf meine vielen Fragen geben konnte.
Ich zermarterte mir den Kopf. War ich böse gewesen? Warum mieden mich alle, die mich einst liebgehabt hatten? Das passte alles nicht zusammen. Ich verstand diese Welt nicht, sie war für mich vollkommen aus den Fugen geraten. Es war nicht mehr das geborgene Zuhause meiner Kindertage, ich hatte es verloren. Jetzt war ich auch noch auf meinen Bruder böse, weil er mich im Stich gelassen hatte.
Lange hat es damals gedauert, bis mir dämmerte, dass Mirko ohne sein Einverständnis gehen musste. Es ist sogar anzunehmen, dass sein Verschwinden während meines Aufenthalts bei dem Hausmeisterpaar kein Zufall war. Im Rückblick betrachtet, wirkt mein kurzer Ausflug in das Schulgebäude wie ein gezieltes Manöver. Möglicherweise hatten die Behörden meine Pflegeeltern lediglich benutzt, um mich ohne Aufsehen von meinem Bruder trennen zu können. Bei meinen späteren Nachforschungen in den amtlichen Unterlagen fand ich nichts weiter als einen knappen Vermerk: Der erste Versuch, mich zur Pflege zu geben, sei »nicht geglückt«. Aber keinerlei Hinweis darauf, wer diese anonymen Gasteltern waren und was sie mit mir vorgehabt hatten.
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W ährend die meisten Heimkinder sich rege am täglichen Freizeitprogramm beteiligten, puppte ich mich immer weiter ein. Mein kindlicher Ehrgeiz lag komplett brach. Ich wollte nicht mehr reden, nicht mehr spielen, am besten gar niemanden mehr sehen. Sportliche Wettkämpfe mied ich besonders, denn jede
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