Entrissen
war ich im Grunde unsichtbar. Meine Hilflosigkeit lähmte mich.
Erst als wir zum Mittagessen gerufen wurden und das Spielbrett verwaist am Boden lag, entlud sich meine aufgestaute Wut. Zornig stieß ich mit dem Fuß dagegen. Mein Bruder fuhr herum und verpasste mir eine Ohrfeige. Ich heulte laut auf. Das hätte er früher niemals getan.
Und jetzt besser auch nicht. So schnell, dass ich es kaum erfassen konnte, kam meine Pflegemutter aus der Küche geschossen und schlug Mirko mitten ins Gesicht. Sie hatte nur mitbekommen, dass er mir eine geknallt hatte, nicht warum. Ihre Ohrfeige war von solcher Wucht, dass er auf die Couch in der Ecke flog und sich auf seiner Wange bald ein dicker roter Fleck abzeichnete. Noch am selben Tag beförderte sie meinen Bruder in ihr Auto und brachte ihn wieder weg, während die Nachbarin auf mich aufpasste.
Inzwischen weiß ich aus den Akten, dass Frau Dr. Denzer damals beantragt hatte, uns nach der vorgesehenen Vorlaufzeit beide als Geschwister zu adoptieren. Damit wäre unsere Familie zumindest im Kern erhalten geblieben. Ob unser Zusammenleben bei dieser Kinderärztin auf Dauer gutgegangen wäre, vermag ich nicht zu beurteilen.
Damals fühlte ich mich auf Anhieb schuldig und machte mir große Vorwürfe. Hätte ich meine Gefühle besser im Zaum gehalten und Mirko keinen Anlass für die Backpfeife geliefert, wäre er bei mir geblieben. Nun aber sah er sich gewiss von mir aus dem Nest gedrängt. Er, der für mich immer der Beschützer war, musste sich jetzt vorkommen wie das Opfer meiner unbändigen Eifersucht. Wieso war ich so unbedacht? Ob er mir das jemals verzeihen wird?, überlegte ich damals, und diese Sorge sollte ich nie wieder loswerden. Mein Wutanfall und dessen Folgen hatte Mirko auf Dauer aus meinem Leben torpediert.
[home]
6 .
F rau Dr. Denzer bemühte sich, den Vorfall möglichst rasch vergessen zu machen. Sie war sichtlich darauf bedacht, mir ein angenehmes Zuhause zu bieten. Sogar ein Kurzurlaub stand auf dem Programm, ein paar entspannte Tage an der Ostsee, denen ich regelrecht entgegenfieberte. Doch die Vorfreude sollte mir gründlich vermiest werden.
Die Koffer standen gepackt im Wohnungsflur, als meine Pflegemutter mir auftrug, zur Stärkung vor der Abreise noch ein Glas Buttermilch zu trinken, während sie das Reisegepäck schon mal zum Auto hinuntertrug.
Wenn ich damals irgendetwas von Grund auf verabscheute, dann dieses trübe, säuerliche Getränk, und allein der Gedanke an Buttermilch verursachte mir Übelkeit. Davon abgesehen wusste sie, dass ich das Zeug nicht vertrug. Doch so viel hatte ich während meines kurzen Daseins als Pflegekind gelernt: Kinderärztin Frau Dr. Denzer hatte ihre Prinzipien, und die mussten gefälligst eingehalten werden. Da sie Buttermilch nun mal als gesund und förderlich für das heranwachsende Kind einstufte, musste das Glas auch konsequent geleert werden, und zwar bis zur Neige. Da war sie unerbittlich. Konnte ich es wissen: Nachdem sie Mirko schon wegen einer einzigen Ohrfeige wieder abgeschoben hatte, was würde mit mir geschehen, wenn ich mich nicht an ihre Anweisungen hielt? Um keinen Preis wollte ich zurück in dieses Heim, wo die boshafte blonde Erzieherin auf mich lauerte. Dann schon lieber Buttermilch.
Ich nahm also all meine ganze Überwindungskraft zusammen und schluckte das ganze große Glas mit dem weißen Zeug hinunter. Es war ekelhaft, und ich kam mir ungemein tapfer vor. Um mein vorbildliches Verhalten zu krönen, zog ich einen Hocker von dem kleinen Küchentisch vor die Spüle, um an den Wasserhahn zu gelangen, und reinigte das Glas gründlich. Anschließend rieb ich es mit einem Tuch trocken und stellte es an seinen Platz in dem modernen, weißlackierten Hängeschrank. Das Einzige, was ich in meinem Eifer außer Acht ließ, war die Säuberung des Spülbeckens. Dessen ungeachtet war ich sehr stolz auf mich.
Eifrig meldete ich Vollzug, als meine Pflegemutter zurück in die Küche kam, und freute mich schon auf das zu erwartende Lob wegen meines vorbildlichen Gehorsams. Doch als sie daran ging, die Sauberkeit des Glases zu kontrollieren, entdeckte sie einige Buttermilchflocken im Ausguss. Unvermittelt erhielt ich eine heftige Ohrfeige, ehe ich überhaupt etwas erwidern oder erklären konnte. Für meine neue Mutter schien die Beweislage eindeutig: Sie glaubte, dass ich, statt ihrem Befehl nachzukommen, die Buttermilch heimlich in die Spüle gekippt und die Spuren meines Ungehorsams verwischt hatte. Dabei
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