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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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meinte sie mich ertappt und mir die gerechte Strafe dafür verpasst zu haben.
    Wieder tat mir die Wange weh. Wieder musste ich spüren, dass mich eine Vertrauensperson schlug, gegen alle Gewohnheit und ohne berechtigten Anlass. Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Meiner Richterin musste das wie ein nachträgliches Schuldeingeständnis erscheinen. Wie konnte ich ihr nur glaubhaft machen, dass ich ihrer Anweisung nicht nur Folge geleistet, sondern sie geradezu übererfüllt hatte? Eingeschüchtert versuchte ich es mit der Wahrheit. Wirklich überzeugend klang ich jedoch leider nicht.
    Meine nette Pflegemutter war nicht wiederzuerkennen. Wie eine Furie schrie sie mich an. »Lüg jetzt nicht auch noch!« Dass sie mir kein Wort glaubte, schmerzte mich mehr als die Ohrfeige. Ich hatte es nur gut gemeint, wollte ihr einen Gefallen tun. Aber mein Wohlverhalten kehrte sich nur gegen mich, und leider war niemand da, der meine Beteuerungen bestätigen konnte. Für mich gab es nur eine Quintessenz: Ich musste künftig genau das machen, was sie mir vorwarf. Ich musste lügen, mich verstellen. Die Erwachsenen sollten zu hören bekommen, was sie hören wollten. Mit Aufrichtigkeit kam ich nicht weiter. In diesem Moment erwachte die Rebellin in mir.
    Auf den Schuldspruch folgte zu allem Übel auch noch die denkbar bitterste Strafe, denn nun stellte die Ärztin ein weiteres, randvoll mit Buttermilch gefülltes Glas vor mich hin. Ich sollte es austrinken, unter ihrer Aufsicht. Aber das ging nun gar nicht mehr. Jeder Schluck löste einen Würgereiz aus, ich war wie blockiert, mir hatte es buchstäblich die Kehle zugeschnürt.
    Ich verstummte und schwieg auch noch, als wir das Treppenhaus hinunterstiegen und unseren Reiseproviant in den Kofferraum des gelblich beigen Wartburg luden. Wortlos saß ich auf der Rückbank, während wir unser Urlaubsziel, eine kleine Finnhütte mit spitzwinkligem Strohdach, an der Ostseeküste ansteuerten.
    Meine Pflegemutter betrachtete mich eine Weile im Rückspiegel, dann meinte sie nur knapp: »Du willst zurück, stimmt’s?«
    Da musste ich ihr recht geben. Für mich war dieses Intermezzo endgültig erledigt. Das Pflänzchen des Zutrauens, das seit unserer ersten Begegnung zaghaft heranwuchs, war mit einem Schlag zertreten. Ich wollte keine Frau zur Mutter haben, die mir kein Vertrauen entgegenbrachte. Im Grunde wollte ich gar keine andere Mutter.
    Meine echte Mama gibt es ja noch irgendwo, grübelte ich während der Fahrt. Sie hätte mich niemals gezwungen, etwas wider Willen zu verzehren. Vielleicht suchte sie mich gerade? Sosehr ich es ihr anfangs nachgetragen hatte, dass sie mich im Stich gelassen hatte, sosehr sehnte ich mich jetzt nach ihr – umso mehr, als ich in meiner derzeitigen Bleibe wahre Mutterliebe vermisste. Eine tiefe innere Zerrissenheit zerrte an mir, meine Gefühle überwältigten mich. Ich hoffte, dass Mama mir mein vermeintliches Missverhalten inzwischen verziehen und sich auf die Suche nach mir begeben hatte. Um ihr die Chance zu geben, mich wiederzufinden, war ich nun sogar bereit, in das verhasste Kinderheim zurückzugehen. Lieber wollte ich der missgünstigen Heimerzieherin ausgeliefert sein als dieser unbeherrschten Ersatzmutter. Die Kinderärztin am Steuer schien meine trotzige Ablehnung mit Fassung zu tragen.
    So wurde der Kurzurlaub zur Abschlussveranstaltung unseres viermonatigen Zusammenseins. Für meine Pflegemutter mag er unterhaltsam und erholsam gewesen sein, ich dagegen erinnere mich nur mit Grausen daran. Am Ferienort traf sich Frau Dr. Denzer mit einem befreundeten Ehepaar, in dessen Datsche wir Unterschlupf fanden. Vielleicht meinte sie, mir ein besonderes Erlebnis zu gönnen, als sie mich zusammen mit ihren Freunden in die Sauna mitnahm. Mir verschlug es bei der trockenen Hitze in der engen Holzkammer förmlich den Atem, und ich meinte bald zu ersticken. Der Schweiß strömte mir aus allen Poren, tropfte auf den Boden und wurde vom Holz aufgesogen. Ich hatte nur noch einen Wunsch: dem Hitzebad so schnell wie möglich zu entfliehen. Doch meine Pflegemutter ließ mich nicht vorzeitig gehen. Schließlich war nach ihrer Überzeugung ein ausgiebiger Saunagang gut für die Gesundheit. Die verbleibenden Minuten zerronnen für mich so quälend langsam wie der Sandstrahl im Glasröhrchen an der Wand.
    Als ich endlich wieder frische Luft in die Lungen saugen durfte, folgte eine Qual, die noch peinigender für mich war. Mit fröhlichem Schwung sprangen meine

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