Entrissen
leitete, versuchte mich erneut an meiner Ehre zu packen, wie so oft mit Hohn in der Stimme. »Komm, Katrin«, sagte sie, »du bist doch kein Krabbelkind mehr.«
Merkte sie denn nicht, wie sehr es mir widerstrebte, mich vor all den anderen zu blamieren? Ich wollte das auf keinen Fall und suchte trotzig nach Munition. In meiner Not erwiderte ich: »Mein Mama holt mich eh bald ab, da muss ich so was nicht machen.«
Die Erzieherin lachte mich nur aus, und ich spürte mit Unbehagen, wie die Stimmung im Raum sich gegen mich wendete.
»Deine Mutter kommt bestimmt nicht mehr«, verkündete sie mit schneidender Stimme, während andere Kinder feixten. »Sie ist eine Staatsverräterin, und das hat sie jetzt davon.«
Ich wusste nicht, wovon diese gemeine Frau sprach. Aber dass irgendetwas Unheilvolles meine Mama von mir fernhielt, das merkte ich sehr wohl. Tränen schossen mir in die Augen, dabei wollte ich gar nicht weinen. Ich wollte tapfer und vernünftig sein, wie ich es den Erwachsenen versprochen hatte. Um nicht mit verweinten Augen ertappt zu werden, blieb mir nur der Rückzug. Auf der Holztreppe zum Obergeschoss gab es eine Stelle, wo ich mich hinter den Streben des Geländers versteckte. Von dort konnte ich durch die Zwischenräume den Vorraum des Hauses überblicken, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Dieses kleine Refugium war mein einziger Rückzugsort, unzählige meiner Tränen haben das Holz getränkt.
Eines Tages, als ich mich wieder mal dorthin flüchtete, folgte mir die blonde Erzieherin ein paar Schritte die Treppe hinauf. Sie wusste längst, wohin ich mich bevorzugt verzog, wenn ich allein sein wollte – und nun sah sie mein tränenüberströmtes Gesicht. Ertappt! Ich wartete wie erstarrt darauf, dass sie mich jetzt zurechtweisen und nach unten scheuchen würde, aber nichts dergleichen geschah. Sie wandte sich bloß kommentarlos um und ging wieder zu den anderen Kindern nach unten, die sich gerade zum Turnen umzogen. Für einen Moment dachte ich, dass sie mich dieses Mal in Ruhe lassen würde. Ich atmete auf und hielt sogar mit dem Weinen inne.
Doch dann hörte ich die Sätze, die mir bis heute in den Ohren klingen und jedes Mal wieder einen Stich versetzen. »Die Katrin ist eine Heulsuse«, erklärte die Betreuerin den anderen Mädchen und Jungen. »Kommt, Kinder, lasst sie uns einmal richtig laut auslachen!« Das Gelächter meiner Heimgefährten traf mich bis ins Mark.
Eine Pädagogin, die die Spottlust der ihr anvertrauten Kinder anstachelt, müsste eigentlich wissen, welche Qualen sie damit einer kleinen Seele bereitet. Das angestiftete Lachen der Kinder nahm mir beinahe die Luft zum Atmen. Nie zuvor hatte ich mich so bloßgestellt und vor aller Augen gedemütigt gefühlt. Darüber kam ich nicht hinweg. Noch am Abend im Bett weinte ich mich still in den Schlaf, während ich trostsuchend am Daumen nuckelte.
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5 .
D as Jahr 1972 ging dem Ende zu, so trostlos, wie es verlaufen war. Selbst das obligatorische Weihnachtsgeschenk, das alle Mädchen im Heim erhielten, ein Kästchen mit Perlen, vermochte in mir keine rechte Freude zu wecken. Ich musste es hinterher sowieso wieder, wie sämtliche Spielsachen, der Kollektivgemeinschaft zur Verfügung stellen. Weihnachten kam mir wie ein müder Abklatsch des Lichterfestes meiner früheren Kindertage vor. In der Verklärung strahlten die Momente im Kreise meiner Lieben umso glanzvoller wider.
Es muss um diese Zeit gewesen sein, als sich eine neue Anwärterin auf meine Pflegschaft im Kinderheim meldete. Aus den verbliebenen Schriftsätzen der zuständigen Behörden geht hervor, dass die Kinder- und Jugendärztin Frau Dr. Denzer mich seit Dezember 1972 immer mal wieder am Wochenende zu Besuch bei sich aufgenommen hat. Sosehr ich auch in meinem Gedächtnis forsche, zu diesen angeblichen Aufenthalten kommen mir keine Bilder in den Sinn. Es mag sein, dass ich auch diese Phase meines Daseins aus der Erinnerung gelöscht habe. Möglicherweise wurde auch für die Akten eine Kennenlernphase fingiert, um die Frist bis zur beabsichtigten Adoptionsbewilligung zu verkürzen.
Meine persönliche Erinnerung setzt jedenfalls erst ein, als besagte Ärztin im Frühsommer 1973 in unser Kinderheim kam und mich fragte: »Hättest du nicht Lust, mit mir gemeinsam umzuziehen?« Frau Dr. Denzer war damals etwa Ende zwanzig. Mit ihrem modisch-blonden Haarschnitt und dem eleganten Kostüm wirkte sie jung, modern, unternehmungslustig und schien zudem genau zu wissen,
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