Entrissen
kleine Niederlage hätte meinen wunden Punkt getroffen. Lieber riskierte ich, als Spielverderberin zu gelten, statt mich vor den anderen bloßzustellen und meinen Selbstzweifeln auszuliefern.
Einmal konnte ich mich jedoch nicht entziehen und musste der Aufforderung nachkommen, im Foyer über eine umgedrehte Turnbank zu balancieren. Vor lauter Versagensangst rutschte ich prompt vom Sockel ab und schürfte mir den Knöchel auf. Viel schlimmer als die Wunde schmerzte mich das Gelächter der anderen Kinder. Eine Erzieherin mit blonden Haaren ermunterte sie geradezu, indem sie sagte: »Seht mal, wie kann man nur so dumm sein! Nicht einmal diese Babyübung kriegt sie hin!«
Erst durch spätere Nachforschungen fand ich heraus, dass dieser Balanceakt Teil eines Testprogramms war, mit dem mein Entwicklungsstand eingestuft werden sollte. Ich entsinne mich auch, dass ich damals Bauklötzchen in ein Loch bugsieren, Linien auf einem Papier nachzeichnen und Kreise ausmalen sollte. Allerdings war ich so verstört und unkonzentriert, dass ich in den Augen der Betreuer auf ganzer Linie versagte. Meine Feinmotorik sei nicht altersgemäß, fanden sie heraus, in meiner Entwicklung hinke ich den Gefährten deutlich hinterher. Sollte diese Untersuchung etwa die Notwendigkeit meines Heimaufenthalts begründen und beweisen, dass ich vorher vernachlässigt worden war? War ich erzieherischer Nachhilfe bedürftig, um mich zur erwünschten »gesunden und lebensfrohen« sozialistischen Persönlichkeit zu entfalten, wie es das Familiengesetz der DDR verlangte? Ein zweiter Test nach einem Jahr jedenfalls zeigte keine besonderen Auffälligkeiten mehr. Allerdings weigerte ich mich dieses Mal, den Balanceakt auf der umgedrehten Sitzbank zu wiederholen.
Im Verlauf des Jahres 1972 zog ich mich also immer mehr zurück und gewöhnte mir eine passive Verweigerungshaltung an. Irgendwann gaben selbst die wohlmeinenden Erzieherinnen den Versuch auf, mich zum Mitmachen zu ermuntern. Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum die anderen so viel Spaß miteinander hatten. Einige Kinder erhielten gelegentlich Besuch von Verwandten. Ich dagegen kam mir völlig vergessen vor. Mein Dasein glich einem Gefängnisaufenthalt. Sogar buchstäblich: Die Klinken an sämtlichen Außentüren waren so hoch angebracht, dass wir Kinder sie selbst dann nicht hätten erreichen können, wenn wir auf einen Stuhl geklettert wären.
Auch meine Oma ließ sich nicht mehr blicken. Damals gab es für mich keine Erklärung dafür, denn niemand verlor darüber ein Wort. Es war in jener Zeit ohnehin unüblich, Kinder in die »wichtigen« Angelegenheiten der Erwachsenenwelt einzubeziehen. Kinder galten als Objekte der Erziehung, nicht als kleine Persönlichkeiten mit eigener Empfindungswelt. Erkenntnisse der Psychologen über Verlassensängste und deren Auswirkungen auf das kindliche Seelenleben hatten für die Praxis wenig Bedeutung. In Krankenhäusern wurden selbst die jüngsten Patienten von ihren Eltern separiert, um die Behandlung möglichst »effizient« zu halten. Über die Trennung würden die Kleinen sicher bald hinwegkommen, lautete damals eine gängige Vorstellung. Kinder seien so sehr auf sich selbst bezogen, dass sie alles, was um sie herum geschehe, schnell wieder vergäßen. Eigenständige Bedürfnisse von Kindern waren seinerzeit weithin noch ein Fremdwort. Ja, viele Pädagogen befürworteten sogar, Kindern nicht zu viel Zuneigung zu schenken, um sie nicht zu »verwöhnen«. Diese Einstellung war durchaus keine Eigenart der DDR -Erziehung, sondern bis in die sechziger Jahre auch in der westlichen Welt eine gängige Ansicht. Allerdings wurde in meinem Heimatstaat manches Dogma gründlicher verfochten, und das Umdenken erfolgte auch auf diesem Sektor mit Verspätung. Hinzu kam, dass in unserem Überwachungsstaat eine allzu große Offenheit gerade vor Kinderohren generell unüblich war, da man vermeiden wollte, dass unerwünschte Wahrheiten durch Kindermund an unbefugte Mitwisser gelangen konnten.
Nach außen nahm ich meine Abschottung scheinbar gleichgültig hin. In meinem verkarsteten Innenleben dagegen verspürte ich nur eine einzige Regung: Ich will hier raus!
Eines Morgens stand wieder die verhasste Turnstunde auf dem Programm. Ausgerechnet Balancieren auf dem schmalen Fußbalken der umgedrehten Bank, jene Übung, bei der ich schon einmal abgerutscht war. Keine zehn Pferde brachten mich da noch mal hinauf! Die blonde Erzieherin, die unsere Vorschulgruppe
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