Entscheide dich, sagt die Liebe
warst so ein entzückendes Baby! Alles hätte gut werden können.« Ihr Blick flackerte. »Doch dann kreuzte eines Tages eine Frau vom Jugendamt auf. Sie behauptete, eine Nachbarin habe mich angezeigt, weil das Kind so oft schreie. Du seist halb verhungert, sagte sie. Dabei warst du kugelrund, hattest nur einen leichten Ausschlag im Gesicht wie so viele Babys. ›Spuren von Vernachlässigung‹ nannte es die Frau. Sie hat dich noch am selben Tag mitgenommen.«
»Aber … wie ist das möglich?«
»Leo steckte dahinter. Ich nehme an, er hat einige wichtige Leute bestochen.«
Clara starrte ihre Mutter an. »Nein!« Sie schüttelte den Kopf, immer wieder, konnte gar nicht mehr damit aufhören. Was für ein Unsinn! Niemals hätte Paps so etwas getan!
»Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, dass er so weit gehen würde. Aber er hat es Max gegenüber zugegeben. Er werde sich seine Tochter zurückholen, koste es, was es wolle, hat er zu seinem Bruder gesagt. Er schrecke vor nichts zurück, um ans Ziel zu kommen.« Lidija schnäuzte sich. »Von dem Augenblick an hat Max mit Leo gebrochen. Er hat sich offen zu mir bekannt und mich nach bestem Wissen beim Sorgerechtsprozess unterstützt. Leider hat es nichts geholfen. Leo hatte die besseren Anwälte. Du bist ihm zugesprochen worden, und ich durfte dich nicht einmal sehen, weil ich angeblich tablettensüchtig war und aggressiv.«
Claras Kopf schmerzte, als säße ein kleines Männchen mit einem Metallhammer darin und bearbeitete ihre Schädeldecke von innen. Sie wusste, dass ihr Vater streng sein konnte, aufbrausend, jähzornig, ungerecht. Viele Orchestermusiker hatten das zu spüren bekommen. Manch einer hatte ihn deswegen gehasst. Aber er war doch kein Verbrecher! Er war doch kein Mensch, der über Leichen ging, um sein Ziel zu erreichen! Dass er ihre Mutter so behandelt haben sollte, überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Vermutlich log Lidija, um über ihre eigenen Fehler hinwegzutäuschen. »Warum hast du eigentlich nie versucht, mich zu kontaktieren? Später, meine ich, als ich größer war.«
»Oh, was habe ich nicht alles versucht! Ich habe Leo angebettelt, dich wenigstens ab und zu sehen zu dürfen, aber er ließ sich nicht erweichen. Die Briefe, die ich dir geschrieben habe, hat er abgefangen. Allen Leuten in deinem Umfeld hat er eingeschärft, mich nicht an dich heranzulassen, weil ich gefährlich sei. Nur Amelie hatte Mitleid. Sie schickte mir ab und zu Fotos von dir und ließ mich wissen, wie es dir geht.«
»Du hättest mich auf dem Schulweg abfangen können.«
»Und was glaubst du, wie du darauf reagiert hättest? Auf eine wildfremde Frau, die dich anspricht und behauptet, deine Mutter zu sein?« Sie lachte rau auf. »Einmal bin ich dir nachgegangen. Es war kurz vor deinem achten Geburtstag. Du bist zum Klavierunterricht marschiert. Ich sehe dich noch vor mir mit deinem blauen Mantel, den beiden Zöpfen mit den dazu passenden Schleifen und der dicken Notenmappe unter dem Arm. Nach hundert Metern hast du dich umgedreht und mich angestarrt. Mir ist nichts Besseres eingefallen, als dir zuzuwinken. Daraufhin hast du deine Mappe fester gepackt und bist losgelaufen. Hast dir wohl gedacht, du hättest es mit einer Verrückten zu tun.« Sie lächelte wehmütig. »Damals habe ich eingesehen, dass ich keinen Kontakt erzwingen konnte. Ich habe meine Hoffnung in Amelie gesetzt. Vielleicht würde sie dir irgendwann meine Briefe zeigen. An deinem achtzehnten Geburtstag oder nach Leos Tod. Und vielleicht würdest du dich dann bei mir melden.«
Clara grübelte. An die geschilderte Episode konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Trotzdem klang die Geschichte nicht erfunden. Sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Hatte sich ihr Vater Lidija gegenüber wirklich wie ein Schwein benommen, oder erfand ihre Mutter Horrorgeschichten? Logen beide, und die Wahrheit lag irgendwo in der Mitte? Wenn sie nur einen Dritten fragen könnte! »Was ist eigentlich mit Max? Bist du noch mit ihm zusammen?«
Lidija betrachtete ihre Kaffeetasse, als wären Geheimnisse darin verborgen. »Nach dem Sorgerechtsprozess sind wir zusammengezogen. Ich hatte dich verloren, Max hatte sich mit seinem geliebten Bruder zerstritten, aber wir trösteten uns gegenseitig.« Sie wickelte eine lose Haarsträhne um ihren Finger. »Was soll ich sagen? Zwei, drei Jahre lang hat es funktioniert. Wir liebten uns ja! Aber wir waren nicht mehr dieselben, nach allem, was passiert war. Eines
Weitere Kostenlose Bücher