Entscheide dich, sagt die Liebe
Tages mussten wir feststellen, dass ein gemeinsamer Schmerz keine gute Basis für eine Beziehung ist. Dass er viel Energie kostet und viel zerstören kann. Auch eine große Liebe. Letztlich konnte Max mir dich genauso wenig ersetzen wie ich ihm seinen älteren Bruder.«
»Ihr habt euch getrennt?«
»Ich habe die Stelle als Cellistin im Philharmonischen Orchester angenommen und bin nach Würzburg gezogen, Max ist in Salzburg geblieben. Er hat für seinen Beruf gelebt, für die Schüler. Ich für mein Cello.« Lidija lächelte. »Immerhin sind wir Freunde geblieben.«
Clara begann, auf dem Sofa hin und her zu rutschen. Sie musste mit ihrem Onkel sprechen. Vielleicht konnte er ihr die Augen über ihre Eltern öffnen. »Wo lebt Max jetzt? Ich möchte ihn gern kennenlernen.«
Lidija schluckte und senkte den Kopf. »Das geht leider nicht«, murmelte sie. »Er ist vor zwei Jahren gestorben. Ganz plötzlich. Ein Aortenriss.«
»Nein!« Claras Hoffnung auf Antworten zerplatzte wie Seifenblasen.
»Es muss sehr schnell gegangen sein«, sagte Lidija. »Eigentlich ein schöner Tod, leider viel zu früh.« Sie wirkte plötzlich müde. Als kostete sie das Weitersprechen sehr viel Kraft. »Bei Max’ Beerdigung habe ich übrigens deinen Vater zum letzten Mal gesehen. Er hat geweint. Ich wusste gar nicht, dass er das konnte.«
Auch Clara war zum Weinen zumute. Ihre Gedanken kreisten immer noch um die Ungeheuerlichkeiten, die sie erfahren hatte. Als wäre es nicht schlimm genug, dass ihr Vater sie – was Lidija betraf – belogen hatte. Ganz offensichtlich belogen. Nun sollte er auch noch ein Tyrann gewesen sein! Ein Monster, dem jedes Mittel recht war, um seinen Willen durchzusetzen. Und dem es egal war, wenn er dabei andere Leute ins Unglück stürzte.
Niemals! Viel wahrscheinlicher war doch, dass ihre Mutter log. Oder zumindest maßlos übertrieb. Vielleicht unabsichtlich? Weil sie psychisch krank war?
»Du glaubst mir nicht, nicht wahr?« Lidija warf ihr einen verstohlenen Blick zu. »Nein, natürlich nicht. Ich kann dich gut verstehen. Du hast deinen Vater geliebt wie niemanden sonst auf der Welt. Zu Recht. Er hat dasselbe für dich empfunden. Das möchte ich dir auch nicht nehmen, Clara. Ich will das Bild, das du von Leo hast, nicht kaputt machen. Ich wollte dir nur meine Perspektive der Geschichte erzählen. Damit …«, sie hielt inne, »… damit wir beide die Vergangenheit hinter uns lassen und neu anfangen können. Was meinst du, bekomme ich eine Chance?«
Clara presste ihre Finger gegen die Schläfen. Sie hatte Kopfschmerzen. Sie war müde. Sie wollte nichts mehr hören, kein einziges Wort. Nur raus hier, an die frische Luft! »Das ist alles so …« Sie sprang auf, packte ihre Umhängetasche und wankte zur Tür.
»Lauf nicht weg!« Lidija folgte ihr. »Entschuldige bitte, ich habe dich überfordert. Was bin ich für ein Schaf!«
Doch da hatte Clara schon die Klinke der Wohnungstür in der Hand. »Ich brauche Zeit«, sagte sie. »Ich muss nachdenken.«
»Natürlich musst du das.« Lidija sah sie zerknirscht an. Sie war immer noch eine gut aussehende Frau, aber der verkniffene Zug um ihren Mund ließ sie verhärmt wirken. »Darf ich dir schreiben? Oder mailen?«
»Ja«, sagte Clara schnell. »Sicher.« Sie spürte, dass Lidija sich nach einer Umarmung sehnte, aber es ging nicht. Nicht jetzt, nicht nach allem, was sie gerade erfahren hatte.
Die ganze Rückfahrt über versuchte sie, sich das Gesicht ihres Vaters vorzustellen. Sein strenges, sein gut gelauntes, sein in Musik versunkenes, sein väterliches Gesicht. Sie versuchte, über die Vorwürfe ihrer Mutter zu lachen. Es war ein Witz! Niemals wäre ihr Vater – das Wort Paps kam ihr mit einem Mal unpassend und kindisch vor – so unmenschlich mit einer Frau umgesprungen, die er einmal geliebt haben musste. Clara musste es wissen, sie hatte ihn schließlich zwanzig Jahre lang gekannt, ihre Mutter kannte sie dagegen noch nicht einmal zwanzig Stunden.
Aber die Gegenstimme, der kleine Teufel in ihrem Kopf, schlief nicht. Hast du ihn tatsächlich gekannt?, fragte sie. Dann musste Clara an die dunklen Seiten denken, von denen Amelie gesprochen hatte, an Ruth Wendling, seine Geliebte, an seinen Bruder Max, den er nie erwähnt hatte, an den geheimnisvollen Klimt im Tresor. Der Zweifel war gesät. Und sie spürte, wie er wuchs. Mit der Schnelligkeit und Ausdauer eines Bohnenkeimlings.
W ie wär’s mit diesem hier, bellissima? « Paolo zeigte auf
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