Entscheide dich, sagt die Liebe
mit mir. Erzählte mir von den Plänen, die er für dich hatte. Du solltest Clara heißen, nach den beiden berühmtesten Pianistinnen, die je gelebt hatten. Und du solltest sie später überflügeln. Lange vor deiner Geburt bestimmte er, wer dein Klavierlehrer sein würde und welche Schule du besuchen würdest. Ich war entsetzt, aber machtlos.«
»Hast du denn nicht widersprochen?«
»Natürlich habe ich versucht, mit ihm zu reden. ›Was ist, wenn sie lieber Geige spielen will? Oder Saxophon? Oder wenn sie mehr Talent zum Zeichnen hat?‹ Er hat mir nicht geantwortet. Seine Pläne standen unverrückbar fest. Die ganze Energie, die er vorher in meine Karriere gesteckt hat, sollte nun dir zugutekommen. Deine Wünsche spielten dabei keine Rolle. Ich glaube, er konnte sich nicht einmal vorstellen, dass du andere Wünsche haben könntest. Und meine Meinung zählte längst nicht mehr, hatte nie gezählt. Ich war nur ein Werkzeug, mit dem er seinen Willen durchsetzen wollte.«
Clara fühlte sich unbehaglich. Was ihre Mutter ihr auftischte, hörte sich so falsch an. Vollkommen unglaubwürdig. Sie schüttelte den Kopf. »Er hat dich also eingesperrt und bevormundet. Und was war mit dem anderen Mann? Wie konntest du in dieser Situation überhaupt einen anderen Mann kennenlernen?«
Lidija lächelte versonnen. »Das konnte ich auch nicht. Es gab nur deinen Vater, mich, eine Köchin und eine Putzfrau, die einmal wöchentlich kam. Und ab und zu besuchte uns der Bruder deines Vaters, Max. Er war dreizehn Jahre jünger als Leo, ein ruhiger, besonnener Mann, der an einem Salzburger Gymnasium Deutsch und Latein unterrichtete. Die beiden hatten ein sehr inniges Verhältnis zueinander, denn Max ist erst drei Jahre alt gewesen, als Leo und er zu Waisen wurden. Leo hat sich immer liebevoll um seinen kleinen Bruder gekümmert. Für Max war er wie ein Vater.«
Clara vergaß vor Aufregung beinahe, zu atmen. All das war ihr völlig neu. Nie hatte Paps von seinem Bruder erzählt. Sie hatte ihn für ein Einzelkind gehalten.
»Max hat mitbekommen, wie ich unter dem Diktat seines Bruders gelitten habe. Er redete Leo zu, mir doch um Himmels willen mehr Freiheiten zu lassen. Vergeblich. Da begann Max, mich in Leos Abwesenheit zu besuchen. Er kümmerte sich um mich. Er unterhielt sich mit mir. Zuerst nur aus Mitleid. Irgendwann kamen andere Gefühle ins Spiel. Wir haben uns ineinander verliebt, hoffnungslos verliebt.«
»Lass mich raten. Ihr hattet eine Affäre, und Paps hat euch erwischt, du hast mich zur Welt gebracht und dich dann mit Max aus dem Staub gemacht.«
»Nicht ganz.« Lidija seufzte. »Max und ich haben lange dagegen angekämpft, wir wollten unsere Gefühle füreinander nicht wahrhaben. Eines Tages ist es einfach passiert: Wir haben miteinander geschlafen. Es war das Wunderbarste auf der Welt, aber das schlechte Gewissen danach hat uns beiden sehr zugesetzt. Es durfte nicht sein. Ich habe Max weggeschickt und ihm verboten, mich noch einmal in Leos Abwesenheit zu besuchen.«
»Und Paps?«
»Dein Vater hat nichts bemerkt. Dann bist du zur Welt gekommen, und mit einem Mal war alles andere unwichtig. Ich war selig. Und ich habe gehofft, dass Leo nach deiner Geburt lockerer würde. Dass er mich als Mutter ernst nehmen würde. Leider habe ich mich geirrt. Er hat mich weiter tyrannisiert. Alles hat er geplant, sogar den Stillrhythmus hat er mir vorgegeben. Ob du hungrig warst oder nicht, spielte keine Rolle. Nach der Uhr musste ich dich füttern. Es war die Hölle. Nach zwei Wochen habe ich ihm gesagt, dass ich so nicht weiterleben kann.« Lidija strich eine Haarsträhne zurück. »Ich wollte gehen, aber Leo wollte mich nicht gehen lassen. Also habe ich aufgehört zu essen. Letztendlich hat er der Scheidung zugestimmt, aus Sorge um deine Gesundheit. Er hat mir Geld gegeben, hat mir geholfen, eine Wohnung zu finden.«
»Warum hast du mich nicht mitgenommen?« Die Worte hatten sich verselbständigt und waren wie Pfeile aus ihrem Mund geschossen, ohne dass Clara sie zurückhalten konnte.
Lidija lachte auf. »Bist du verrückt? Natürlich habe ich dich mitgenommen! Ohne dich hätte ich keinen Fuß vor die Tür gesetzt.« Sie legte den Zeigefinger unter die Nase, als müsste sie den Faden wiederfinden, um die Geschichte weiterzuspinnen. »Ein paar Wochen ging alles gut. Ich konnte endlich ich selbst sein und das fühlte sich an wie eine Befreiung. Ich habe wieder Cello gespielt und du hast den Klang geliebt, das war unübersehbar. Du
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