Entscheide dich, sagt die Liebe
Unmöglich! Was sie am allermeisten verwirrte, war die Tatsache, dass ihre Mutter Berufsmusikerin war. Paps hatte das nie erwähnt. Er hatte behauptet, sie habe sich nach Australien abgesetzt und lebe dort mit ihrem Liebhaber und Hunderten von Schafen in der Pampa. Offensichtlich eine Lüge. Aber warum? Clara dachte an Amelies Worte von der dunklen Seite des Leo Prachensky. Sie schluckte.
Draußen zog die bayrische Landschaft vorbei. Felder mit und ohne Hopfenstangen, grün bezwiebelte Kirchtürme, geschniegelte Dörfer, die für Balkonblumenwettbewerbe zu üben schienen. Je näher Clara ihrem Ziel kam, umso unsicherer wurde sie. Wie würde Lidija Kovac auf ihren Anblick reagieren? Freudig? Erschrocken? Abweisend? Würde sie überhaupt zu Hause sein? Clara hatte es nicht übers Herz gebracht, ihren Besuch telefonisch oder per Mail anzukündigen. Möglich, dass ihre Mutter auswärts spielen musste und sie vor verschlossenen Türen stehen würde.
Dann soll es eben nicht sein, dass wir einander treffen, dachte sie. Dann ist es Schicksal.
Aber es sollte sein. Als das Taxi Clara vor einem blauen Hochhaus abgesetzt hatte und sie die Namensschilder nach Kovac absuchte, vernahm sie Cellotöne. Sie kamen aus der Wohnung im Erdgeschoss, deren Fenster gekippt war. Jemand übte eine schwierige Passage aus einer sinfonischen Dichtung von Richard Strauss.
Clara gab sich einen Ruck. Sie drückte auf den Klingelknopf. Das Cello verstummte, der Summer ertönte, die Haustür sprang auf. Einen Treppenabsatz über ihr öffnete sich eine Wohnungstür, eine Frau streckte den Kopf heraus. Sie trug Leggins und ein überlanges Sweatshirt. Ihr honigblondes Haar war nachlässig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. »Haben Sie ein Paket für mich?«
Clara stieg die sieben Stufen hoch. Was sollte sie sagen? »Guten Tag, Frau Kovac, ich bin nicht die Postbotin, sondern Ihre Tochter.«? Oder einfach: »Hallo, Mutter! Wie geht’s, wie steht’s?«? Vor der letzten Stufe blieb sie stehen, öffnete den Mund und brachte keinen Ton heraus. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Es war, als stünde sie ihrem eigenen Spiegelbild gegenüber. Einem um zwanzig Jahre älteren Spiegelbild mit um drei Nuancen dunklerem Haar.
Lidija Kovac kniff die Augen zusammen, hielt die Hand an die Stirn, um besser sehen zu können. Blinzelte. Dann begann sie zu schwanken, musste sich am Türrahmen festhalten. »Clara.« Ihre Stimme klang heiser, ihr Gesicht war käsebleich. Hoffentlich würde sie nicht ohnmächtig werden. »Bist du meine Clara?«
Aus Claras Mund kam immer noch kein Ton. Sie nickte. Als ihre Mutter ansetzte, sie zu umarmen, zuckte sie zurück.
Lidija hielt inne, ließ die Arme sacken. »Entschuldige, bitte. Wir … wir kennen uns ja noch gar nicht. Ich wollte dich nicht überrumpeln.«
Clara folgte ihr in die Wohnung und nahm auf einem zerschlissenen Sofa Platz. Während Lidija in der Küche verschwand, betrachtete sie die schlichten Möbel, den Notenständer, das Cello, die Bilder, die ihr alle bekannt vorkamen. Es waren gerahmte Fotos von ihr. Clara als Baby, im Kindergarten, mit der Schultüte, bei der Erstkommunion, am Klavier. Die Wand über dem Sofa war gepflastert mit ihren Kinderfotos. Amelie musste ganze Arbeit geleistet haben.
Lidija brachte Kaffee und einen Teller mit Keksen. Sie schenkte ein, setzte sich.
»Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich hätte anrufen sollen«, sagte Clara.
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Dass ich dich endlich, endlich sehen darf!« Tränen liefen über Lidijas Wangen. Sie suchte nach Taschentüchern, schnäuzte sich.
Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, erzählte Clara von Amelies Besuch und den Briefen. Sie sagte, dass sie von ihrem Vater gehört habe, ihre Mutter habe sie nicht gewollt und sei nach ihrer Geburt durchgebrannt. Ohne Baby, dafür mit einem jungen Liebhaber, einem Aussteiger. Nach Australien sei sie mit ihm gegangen, dort habe sie Schafe gezüchtet. Den Kontakt habe sie abgebrochen. Clara habe das geglaubt, denn ihre Mutter habe sich nie bei ihr gemeldet, sei nie aufgekreuzt, nicht ein einziges Mal.
» Das hat er dir also erzählt!« Lidija schüttelte den Kopf.
Und nun gebe es da plötzlich diese Briefe, sagte Clara. Und eine dazugehörige Briefschreiberin, die nicht Schafzüchterin sei, sondern Cellistin, und die in Deutschland lebe, nicht in Down Under. Jetzt sei sie verwirrt und wisse nicht mehr, was sie glauben solle.
»Du willst also meine Version
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