Entscheide dich, sagt die Liebe
der Geschichte hören?«
»Deshalb bin ich gekommen.«
Lidija räusperte sich. »Ich stamme aus einem Dorf in der Nähe von Banja Luka, einer Stadt im nördlichen Bosnien. Meine Eltern waren ziemlich arm, sie hatten alle Hände voll zu tun, mich und meine sechs Geschwister durchzubringen. Mein Opa war der einzige Musiker in der Familie. Mit sieben Jahren bekam ich ein altes Cello von ihm geschenkt. Es war mein Schatz, meine Fahrkarte in ein anderes Leben. Opa hat mich unterrichtet, aber bald konnte er mir nichts mehr beibringen. Ich galt als hochbegabt und kam ans Konservatorium.« Sie machte eine Pause, nahm einen Schluck Kaffee. »Mit dreizehn spielte ich landauf, landab Konzerte und verdiente Geld, das meine Eltern gut brauchen konnten. Mit sechzehn lernte ich den großen Dirigenten Leo Prachensky kennen. Er war damals siebenundfünfzig Jahre alt und auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Er hörte mich spielen und überredete meine Eltern, mich nach Salzburg zu schicken. Denn ich hätte zwar das Zeug, eine von den ganz Großen zu werden, müsste aber noch viel lernen.« Sie sah Clara an und lächelte. »Leo hat so viel für mich getan! Er hat dafür gesorgt, dass ich ein Stipendium bekam und Unterricht bei den besten Cellolehrern. Außerdem wurde ich von einem Privatlehrer in Deutsch, Englisch, Geschichte und Mathematik unterrichtet. Meine Fortschritte hat Leo regelmäßig überprüft. Später hat er mich als Solistin in einem Orchesterkonzert auftreten lassen und hat mich damit ins Konzertleben eingeführt. Vom undisziplinierten Wunderkind wurde ich zu einer gut ausgebildeten Musikerin. Leo war mein Wohltäter, mein Vorbild, ach was, er war mein Gott. Ich bin zerflossen vor Dankbarkeit. Ich wollte nur eins, mich seiner Zuwendung als würdig erweisen und die weltbeste Cellistin werden, um seine Aufmerksamkeit und sein Engagement zu rechtfertigen.«
Clara schluckte. Die letzten Sätze kamen ihr auf unheimliche Weise bekannt vor. Sie fühlte sich ertappt. Auch sie wurde von dem Bedürfnis angetrieben, sich der Liebe ihres Vaters als würdig zu erweisen. Auch sie wollte die beste Pianistin der Welt werden, bloß um ihn stolz zu machen. Sogar noch posthum!
»Die Erfolge haben sich bald eingestellt. Ich habe mein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, habe Wettbewerbe gewonnen und meine erste Tournee absolviert, die mir fabelhafte Kritiken und neue Engagements eintrug. Als ich zurückkam, war ich zweiundzwanzig Jahre alt und stand an der Schwelle zu einer internationalen Karriere.«
Wieder schluckte Clara, aber den Kloß, der in ihrem Hals steckte, wurde sie nicht los. Sie bemerkte, dass ihre Hände zitterten, und verschränkte sie ineinander.
»Damals habe ich mich nur für Musik interessiert, nicht für mein Äußeres. Es ist mir nie aufgefallen, dass ich hübsch war. Erst durch Leos verändertes Verhalten wurde es mir bewusst. Er begann, um mich zu werben, und das musste er nicht lange tun. Ich war ihm ja so dankbar. Natürlich habe ich ihn geliebt!« Lidija senkte ihre Stimme. »Habe geglaubt, ich würde ihn lieben.« Ihr Blick verlor sich in der Ferne.
Clara nickte ihr zu. »Weiter!«, stieß sie hervor.
»Wir waren ein schönes Paar. Der berühmte Maestro und die junge Cellistin. Es war wie im Märchen. Am Anfang war ich so glücklich. Ich war am Ziel meiner Träume angelangt, habe Konzerte gegeben, war erfolgreich, wurde geliebt. Und dann …«, die Kaffeetasse klirrte, als Lidija sie abrupt abstellte, »… dann wurde ich schwanger und alles hat sich verändert. Leo hat mich herumkommandiert. Er, der mich früher immer zum Üben angetrieben hat, verbot mir plötzlich, mehr als ein, zwei Stunden täglich Cello zu spielen. Ich musste meine Konzerte absagen, durfte nicht mehr reisen, durfte mich nicht anstrengen, um dem Embryo in meinem Bauch nicht zu schaden. Nicht einmal unter Leute gehen durfte ich. Er hat mich in seinem Haus eingesperrt und mir seine Regeln aufgedrückt. Ich aß und trank, was er für richtig befand, egal, ob es mir schmeckte oder nicht. Sogar die Musik, die ich hörte, hat er ausgesucht. Alles zum Wohl des heranwachsenden Kindes. Zu deinem Wohl, behauptete er.«
Clara traute ihren Ohren nicht. Sicher, ihr Vater war immer sehr autoritär gewesen. Aber was Lidija da schilderte, grenzte ja an Tyrannei! Bestimmt übertrieb sie.
»Ich fühlte mich, als wäre ich entmündigt worden. Meistens war ich allein und langweilte mich zu Tode. Wenn Leo zu Hause war, unterhielt er sich
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