Entscheide dich, sagt die Liebe
außer Leos Geige haben sie alles verloren.«
»Wie furchtbar! Das hat er mir nie erzählt.« Das Erlebnis musste ihren Vater traumatisiert haben. Vielleicht wollte er deshalb nicht darüber sprechen. »Ich wusste nicht einmal, dass er früher Geige gespielt hat!«
»Leo soll ein hervorragender Geiger gewesen sein, er hat sich aber bald mehr auf das Dirigieren verlegt und in den Fünfzigerjahren rasch Karriere gemacht.«
Clara drückte ihr Handy, als wollte sie es zerquetschen. So viele Lücken, so viel Unbekanntes. Rätsel über Rätsel. Allmählich kam es ihr so vor, als hätte ihr Vater seine Vergangenheit absichtlich vor ihr verborgen. Warum? Hatte ihm seine einzige Tochter so wenig bedeutet? »Gibt es jemanden, der ihn als Kind oder Jugendlichen gekannt hat und mir mehr über ihn erzählen kann?«, fragte sie trotzig.
»Nicht, dass ich wüsste.« Lidija schwieg, Clara hörte sie atmen. »Halt, warte! Da gab es einen alten Freund und Studienkollegen, der ihn einmal besucht hat. Ich war damals noch nicht lange in Salzburg. Wie hieß er gleich? Meister? Ja, genau, Franz-Josef Meister, ein freundlicher Herr mit einer Glatze.«
Clara schluckte. »Lebt er noch?« Wenn ja, dann musste auch er über achtzig sein.
»Das kann ich dir nicht sagen. Damals war er jedenfalls Professor für Violine an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Ich erinnere mich, dass er sehr lustig war und gern Anekdoten erzählt hat.«
»Danke, Mama. Du hast mir sehr geholfen.« Hatte sie gerade »Mama« gesagt?
»Pass auf dich auf, Clara.« Die Stimme ihrer Mutter klang mit einem Mal hell wie die eines Kindes, für das Geburtstag, Weihnachten und Ostern an ein und demselben Tag stattfanden. »Bis bald!«
Mit dem Üben war es vorbei. Clara konnte an nichts anderes mehr denken als an ihren Vater, den Unbekannten. Den mit den Schattenseiten und der geheimnisvollen Vergangenheit. Durch das Gespräch mit ihrer Mutter wusste sie nun etwas mehr, aber bei jedem neuen Puzzleteilchen hatten sich ein oder zwei weitere Fragen aufgetan. Sie fuhr ihren Laptop hoch und googelte nach Franz-Josef Meister. Einen gleichnamigen Geiger fand sie nicht. Bloß einen Weinbauern und einen Softwarehersteller, doch die beiden kamen altersmäßig nicht infrage. Ein dritter Franz-Josef Meister züchtete seltene Rosensorten und lebte im Burgenland. Auf seiner Homepage lächelte ihr das Konterfei eines Mannes entgegen, den sie auf Anfang siebzig schätzte. Vielleicht handelte es sich um ein älteres Bild, und er war inzwischen in Vaters Alter? Möglicherweise war er in Pension und widmete sich seither der Rosenzucht. Die Wahrscheinlichkeit war zwar nicht besonders hoch, aber Clara musste sich vergewissern und ihn anrufen. Das elektronische Telefonbuch spuckte bereitwillig eine Festnetznummer aus. Nach dem siebten Tuten meldete sich eine brüchige Stimme.
»Ja?«
»Guten Tag, mein Name ist Clara Prachensky. Spreche ich mit Professor Meister? Franz-Josef Meister?«
»Mit wem denn sonst, Teuerste? Schließlich haben Sie seine Nummer gewählt.« Er schnaufte so laut, dass Clara den Hörer ein Stück von ihrem Ohr weghielt.
»Sind Sie der Violinprofessor?«
»Seit fünfzehn Jahren in Pension. Wenn Sie also wegen Geigenunterricht anrufen, dann muss ich Sie enttäuschen. Außer Sie wären überdurchschnittlich begabt. Aber überdurchschnittliche Begabungen sind selten geworden. So selten wie alte Rosensorten.« Er hustete ein paarmal, atmete laut und pfeifend, dass Clara Angst um ihn bekam. »Wie war noch mal Ihr Name, Teuerste?«
»Clara Prachensky«, sagte sie laut und deutlich. Vermutlich hörte er schon schlecht. »Ich spiele nicht Geige. Ich wollte Sie nur fragen, ob …«
»Prachensky?« Er räusperte sich. »Sind Sie Leos Tochter?«
»Richtig.« Er kannte ihren Vater! »Und ich wollte …«
»Mein herzliches Beileid, Teuerste. Schade um Leo, den alten Haudegen. Wirklich sehr schade. Ich war sehr betroffen, als ich von seinem Tod erfahren habe. Wäre gern zum Begräbnis gekommen, bin aber an den Rollstuhl gefesselt. Und dann das Asthma, wissen Sie?«
»Haben Sie meinen Vater gut gekannt?«
»Wir waren zusammen in der Schule. Selbe Klasse. Haben einiges gemeinsam ausgefressen. Hatten Geigenunterricht beim selben Lehrer.« Er schnaufte. »Dem alten Rosenblatt, wissen Sie? Vielleicht habe ich seinetwegen mit der Rosenzüchterei begonnen. Großartiger Lehrer, der alte Rosenblatt. Streng, furchtbar streng. Aber genau. Hatte die ganze
Weitere Kostenlose Bücher