Entscheide dich, sagt die Liebe
Geigenliteratur im kleinen Finger.« Ein weiterer Hustenanfall unterbrach seinen Redefluss.
Hoffentlich stirbt er mir nicht weg, dachte Clara.
»Ich war überdurchschnittlich begabt, aber Leo war ein Genie, wissen Sie? Ja, das war er, meine Teuerste. Aber was wollten Sie mich eigentlich fragen?«
Clara überlegte. Sie musste den alten Herrn dazu bringen, mehr über ihren Vater zu erzählen. Sie musste improvisieren. »Ich ähm … also ich recherchiere für eine Biografie«, stammelte sie. »Eine Biografie über meinen Vater. Leider weiß ich so gut wie nichts über seine Kindheit und da wollte ich Sie fragen, ob Sie …«
»Ob der alte Meister Ihnen dabei hilft?« Er kicherte, hustete, röchelte. Es klang höchst ungesund, aber irgendwie fröhlich. »Und ob er das tun wird! Das ist nämlich eine ganz wunderbare Idee, Teuerste. Ich hoffe, Sie vergessen nicht, mich in der Danksagung zu erwähnen.«
»Selbstverständlich.« Clara atmete auf.
Er räusperte sich. »Wo waren wir? Leo war also ein Genie. Leider hatten seine Eltern nicht viel übrig für Musik. Wollten nicht, dass Leo Geiger wird. Das Tischlerhandwerk sollte er lernen, wie sein Vater. Als dann der alte Rosenblatt wie vom Erdboden verschwunden ist, musste Leo als Lehrling in den väterlichen Betrieb eintreten, während ich aufs Konservatorium gegangen bin und mein Geigenstudium begonnen habe. Mein lieber Schwan, der Zweite Weltkrieg war eine schwierige Zeit!« Professor Meister schwieg, offensichtlich hing er einem Gedanken nach.
»Aber mein Vater hat doch auch Musik studiert. Oder nicht?«, hakte Clara nach.
»Richtig, meine Teuerste. Das hat er. Glück im Unglück könnte man es nennen.« Er senkte die Stimme. »Und es war ein furchtbares Unglück, das über die Prachenskys gekommen ist. Im letzten Kriegsjahr wurde Leos Elternhaus ausgebombt. Vater und Mutter starben, nur der Bruder – ein kleiner Wurm noch – hat überlebt. Außer ihm hatte Leo niemanden mehr. Keine Verwandten, kein Geld. Schrecklich! Und dennoch war es letztlich ein Segen für ihn. Er hat die Tischlerlehre aufgegeben und wenig später die Aufnahmeprüfung am Konservatorium bestanden. Und …«, er kicherte, »… ist wieder bei demselben Geigenlehrer gelandet wie ich.«
»Hat er das Studium abgeschlossen?«
»Mit Auszeichnung, Teuerste, mit Auszeichnung. Und nebenbei hat er die Dirigierklasse besucht und sich um seinen Bruder gekümmert. War ein patenter Kerl, Ihr Vater. Schlau! Und so was von hartnäckig, wissen Sie? Was der sich in den Kopf gesetzt hat, das hat er durchgezogen. Kein Ziel war ihm zu hoch gesteckt. Hat rasch Karriere gemacht. Weltkarriere sogar. War ein großartiger Musiker, Ihr Vater. Später habe ich ihn leider aus den Augen verloren. Wir hatten nur noch sporadisch Kontakt.«
Clara dachte nach. »Eines verstehe ich nicht. Wenn er durch die Bomben alles verloren hat, wie konnte er dann das Studium finanzieren? Hat er nebenbei gearbeitet?«
Meister lachte. Es begann als tiefes Grollen, das in ein Husten und Röcheln überging und in einem pfeifenden Schnaufen endete. »Lustig, Ihre Frage. Die hab ich ihm nämlich auch oft gestellt, damals, in unserer Studienzeit. Aber bei aller Freundschaft, er hat’s mir nie verraten. Stipendien wie heutzutage gab es damals, in der Nachkriegszeit, ja nicht. Und gearbeitet hat er auch nicht, er hat jede Minute zum Üben und Studieren verwendet. Vielleicht hat er einen privaten Sponsor gefunden, einen Mäzen aus dem Ausland, was weiß ich? War ein findiger Kerl, Ihr Vater, wissen Sie?«
»Das war er bestimmt«, sagte Clara. Sie bedankte sich bei Professor Meister und wünschte ihm gute Besserung.
»Mir geht’s prächtig«, röchelte er in den Hörer. »Wünschen Sie mir lieber einen weniger verregneten Sommer als den letzten. Die Nässe tut den Rosen gar nicht gut«, sagte er und legte auf.
Sie starrte auf die Tastatur ihres Flügels und versuchte, das Gespräch zu analysieren. Einerseits hatte sie Glück gehabt, dass der alte Herr geistig noch so fit war und gesprächig wie ein Talkmaster. Immerhin wusste sie jetzt, dass ihr Vater gegen den Willen der Eltern sein Musikstudium durchgezogen hatte. Andererseits blieben einige wichtige Fragen unbeantwortet. Wie hatte er das nötige Geld aufgetrieben? Mit sechzehn Jahren? Ein Waisenjunge, der außer einer Geige nichts besaß!
Clara stöhnte. Wie sollte sie das herausfinden, wenn ihr Vater es nicht einmal seinem Studienkollegen verraten hatte? Sie grübelte. Gab es
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