Entscheide dich, sagt die Liebe
vielleicht einen anderen, einen wirklich guten Freund, dem er solche Dinge anvertraut hatte?
Plötzlich fiel ihr Dillinger ein. Natürlich! Ihr Agent, der auch ihren Vater gemanagt hatte, war darüber hinaus mit ihm befreundet gewesen. Sie ärgerte sich, dass sie nicht schon längst an ihn gedacht hatte, und rief ihn an.
»Clara, meine Liebe! Wie geht’s dir? Bist du fleißig? Oder lässt du dich von diesem Grafen zu sehr ablenken? Du weißt ja, der Clara-Haskil-Wettbewerb …«
»Wie hat mein Vater sein Musikstudium finanziert?«, unterbrach Clara ihn erbarmungslos.
»Was?« Überraschung klang in seiner Stimme auf. »Warum willst du das wissen?«
»Bitte, Richard, es ist wirklich wichtig. Du warst doch sein bester Freund. Bestimmt habt ihr darüber gesprochen.«
»Natürlich haben wir das. Dir hat er es doch sicher auch erzählt.«
»Hat er nicht«, sagte Clara ungeduldig.
Dillinger räusperte sich. Sie stellte sich vor, wie er seinen Walrossschnurrbart zwirbelte. »Also, das war so. Leo hatte es nicht leicht. Seine Eltern wollten nicht, dass ihr Sohn Musik studiert.«
»Stell dir vor, das wusste ich schon. Er sollte eine Tischlerlehre machen.«
»Aber nein, wie kommst du denn darauf?« Dillinger lachte, es klang ein bisschen wie Seehundgebell. »Medizin sollte er studieren. Oder Pharmazie. Die Prachenskys waren Ärzte in dritter Generation. Eine sehr angesehene und äußerst wohlhabende Familie, lauter Akademiker. Der Beruf eines Musikers erschien ihnen unseriös.«
»Aber …« Clara bekam keine Luft. Sie musste sich setzen.
»Dann ist etwas Furchtbares passiert. Ein Bombenangriff kurz vor Kriegsende. Leos Eltern sind umgekommen, alle beide. Nur die beiden Jungs haben überlebt. Das Haus wurde vollkommen zerstört. Zum Glück konnte Leo die kostbare Gemäldesammlung seines Vaters fast vollständig aus den Trümmern retten. Mit dem Erlös der Bilder hat er sein Studium finanziert.«
»Bist du dir ganz sicher, Richard? Seine Eltern waren Ärzte und reich?« Clara verschluckte sich fast vor Aufregung.
»Zweifelst du an meinem Verstand? Selbstverständlich bin ich mir sicher. Bombensicher sozusagen.« Er lachte, hielt dann abrupt inne, vermutlich war ihm die Geschmacklosigkeit des Witzes klar geworden.
»War unter den Bildern auch ein Klimt?«
»Keine Ahnung. Wieso, zum Teufel, stellt du so merkwürdige Fragen?«
»Nur so. Danke, Richard.« Clara verabschiedete sich und beendete das Telefonat, bevor er wieder die Sprache auf das Üben, den Wettbewerb oder irgendwelche Konzertverpflichtungen bringen konnte.
Ihr Kopf schwirrte. Sie stützte ihn in die Hände. Zwei widersprüchliche Versionen gab es also. Welche stimmte denn nun? Hatte Professor Meister recht, und die Prachenskys waren Tischler gewesen und nicht besonders wohlhabend, wie es im Übrigen auch Lidija erzählt hatte? Dann war Dillinger ein Lügner. Oder ihr Vater hatte seinem Agenten und Freund einen Bären aufgebunden, und Dillinger wusste es nicht besser. Sie sprang auf und umkreiste den Flügel, bis sich in ihrem ohnehin schon schwirrenden Kopf alles zu drehen begann. So intensiv sie über das Gehörte nachdachte, sooft sie alle Wenns und Abers durchleuchtete, sie kam nicht weiter.
Sie musste die Sache anders angehen. Wenn ihr Vater seine Geheimnisse nicht preisgeben wollte, dann würde vielleicht das Ölbild mehr über seine Herkunft verraten!
Wild entschlossen setzte sie sich an ihren Laptop und begann zu recherchieren. Sie rief unzählige Seiten über Klimt auf, über seine Landschaftsbilder, sein Leben. Nach einer Stunde tanzten farbige Punkte vor ihren Augen und sie war um keinen Deut klüger als zuvor. Sie brauchte Hilfe. Und ihr fiel nur eine Person ein, die ihr bei der Recherche nach Bildern helfen konnte. Daniele. Paolos Freund mit den Kaffeeaugen. Sie hatte ohnehin versprochen, ihn anzurufen, um ihn als Puppenspieler für die Verlobungsfeier zu engagieren. Sie fischte den Zettel mit der Handynummer aus ihrer Hosentasche, den Paolo ihr wenige Stunden zuvor zugesteckt hatte. Mit einem mulmigen Gefühl dachte sie an den Streit in der Werkstatt der Rossis. Wie aufgebracht Daniele gewesen war! Würde er ihr überhaupt zuhören, wenn sie ihn anrief? Sie zerknüllte den Zettel – und änderte ihren Plan. Statt anzurufen würde sie lieber nach Torcello fahren, wo Daniele jetzt anscheinend täglich im Atelier seines Vaters arbeitete. Auge in Auge sprach es sich nämlich immer noch am leichtesten.
Diesmal war Daniele allein
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