Entscheide dich, sagt die Liebe
noch leise klirren. Wieder einmal dachte sie an ihre Mutter. Eine Frau, die ihr äußerlich so ähnlich war wie niemand sonst auf der Welt. Eine Frau, die sie so gern gemocht hätte. Aber ihr Vater stand dazwischen.
Wie grau ihr Lidijas Gesicht bei ihrem überhasteten Abschied erschienen war! Ich hätte sie in die Arme nehmen sollen. Jetzt tat es ihr unendlich leid, dass sie es nicht geschafft hatte, über ihren Schatten zu springen. Vielleicht wäre es ihr gelungen, wenn Lidija nicht so übertrieben hätte. Was sie ihrem Exmann vorgeworfen hatte, konnte er unmöglich getan haben. Es passte einfach nicht ins Bild, das Clara von ihrem Vater hatte.
Sie begann, irgendwelche Tasten anzuschlagen, horchte den Tönen nach und fragte sich, wie es eigentlich um ihr Vaterbild stand. Verklärte sie den Menschen, der sie aufgezogen hatte? Versagte ihre Kritikfähigkeit, wenn es um ihn ging? Was war mit den vielen Informationen, die er unterschlagen hatte, von Ruth Wendling bis zum Klimt im Wandtresor? Was war mit den Lügen, die er über ihre Mutter erzählt hatte?
Womöglich hatte Lidija doch recht mit ihren Schauergeschichten? Oder gab es mehr als eine Wahrheit?
Die Saat der Zweifel war aufgegangen. Die Pflänzchen reichten ihr schon bis an die Hüfte.
Langsam ließ Clara ihre Finger im Glissando über die Tasten gleiten. Auf und ab und wieder zurück. Sie musste dieses Rätsel lösen, damit sie sich mit freiem Kopf und einem Lächeln mit Paolo verloben und sich danach konzentriert und motiviert ihren Wettbewerbsvorbereitungen widmen konnte.
Sie beschloss, ihre Mutter anzurufen. Einige Fragen, die sie in Würzburg nicht gestellt hatte, brannten ihr auf der Zunge.
»Kovac«, meldete Lidija sich mit ihrer heiseren Stimme, die zu einer viel älteren Frau gepasst hätte. Einer Frau, die nicht mehr viel zu hoffen hatte.
»Es tut mir leid, dass ich dich nicht umarmen konnte«, platzte es aus Clara heraus.
»Clara!« Jetzt zitterte die Stimme. »Natürlich konntest du das nicht. Meine Schuld. Ich hätte dich nicht mit der Vergangenheit überfallen sollen, sondern mich einfach freuen, dich zu sehen.«
»Ich wollte doch, dass du mir alles erzählst.«
»Vielleicht können wir noch einmal neu anfangen und deinen Vater ausklammern? Er hat dich geliebt, er hat dich großgezogen, hat einen wunderbaren Menschen aus dir gemacht. Jetzt ist er tot, und ich wünsche ihm, dass er seinen Frieden findet.«
»Neu anfangen klingt gut«, sagte Clara. »Kannst du für ein paar Tage nach Venedig kommen? Ich möchte dich zu meiner Verlobungsfeier einladen. Nächsten Samstag.«
Lidija antwortete nicht gleich. Aus der Art der Stille konnte Clara ihre Bedenken heraushören. »Willst du dich wirklich schon binden? Du bist doch erst zwanzig! Bist du dir ganz sicher?«
»Paolo ist ein wunderbarer Mensch«, wich Clara aus. »Er freut sich auf dich.«
»Entschuldige, da rede ich vom gegenseitigen Kennenlernen und schon mische ich mich ein und erteile dir Ratschläge. Schrecklich! Hör nicht auf mich, Clara. Hauptsache, du bist glücklich. Natürlich komme ich nächsten Samstag.«
»Prima. Darf ich dich noch etwas fragen, was meinen Vater betrifft?«
»Obwohl wir nicht mehr über ihn reden wollten?«
»Es ist sehr wichtig.«
»Dann heraus damit!«
»Hat er dir gegenüber je ein Ölgemälde von Gustav Klimt erwähnt? Ein Landschaftsbild mit einem See und einer Blumenwiese.«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Solange ich in der Villa Prachensky gewohnt habe, hing dort nur ein großes Porträt von Leo an der Wand im Schlafzimmer. Über Kunst haben wir nie gesprochen, Leo hat sich schlichtweg nicht dafür interessiert. Warum fragst du?«
»Weil ich das Bild überraschenderweise geerbt habe. Es befand sich in einem Wandtresor. Wäre es möglich, dass es sich um ein Familienerbstück handelt und er es in den Safe verbannt hat, weil er Bilder nicht mochte?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sein Vater war ein einfacher Handwerker. Die Familie Prachensky war nicht gerade arm, aber auch nicht wohlhabend. Sie sind 1945 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.«
»Was?« Clara stockte der Atem.
»Leo war damals sechzehn und zum Glück nicht zu Hause, als es passierte. Ich glaube, er war auf einem Geigenvorspiel. Max war drei und hat wie durch ein Wunder in den Armen seiner Mutter überlebt. Einen Tag lang war er verschüttet, dann hat man ihn ausgegraben. Die beiden Jungen kamen in ein Heim. Außer den Kleidern, die sie am Leib trugen, und
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