Entscheide dich, sagt die Liebe
Selbstverwirklichung?«
Clara schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, im Gegenteil. Ich fühle mich wie eine viel zu kleine Maus in einem viel zu großen Käfig, umgeben von viel zu vielen luxuriösen Dingen, mit denen Mäuse wenig anfangen können.« Auch wenn die Stäbe aus Gold waren, es blieben Stäbe.
»Was für ein Unsinn! Ich glaube dir kein Wort. In Wahrheit geht es um etwas ganz anderes. Du hast dich verliebt. In diesen Rosenblatt!«
»Ja«, sagte sie. »Möglich, dass ich mich tatsächlich verliebt habe.« Sie schluckte. »Aber nicht in Jim.«
Paolo rückte näher. »Wer ist es dann?«
Sie knetete ihre Hände, schluckte, atmete tief durch und rang lange mit sich, ehe sie ihm antworten konnte. »Es ist Daniele«, murmelte sie schließlich. Sie rechnete mit allem, mit Wut, Enttäuschung, Entsetzen, Unglauben. Nur nicht mit seinem Spott.
»Daniele?«, fragte er und lachte, bis er keine Luft mehr bekam. »Ausgerechnet Daniele?« Er schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen. »Hat der alte Schwerenöter mit den triefenden Hundeaugen es wieder einmal geschafft? Und mit seinen Sprachkenntnissen? Hat er dir Schmeicheleien in deiner Muttersprache ins Ohr geflüstert?«
Clara trat einen Schritt zurück. Er hat Kaffeeaugen, dachte sie, und es waren keine Schmeicheleien.
»Hat er dir auch verraten, dass er Frauen sammelt wie andere Menschen Briefmarken?« Er sah sie triumphierend an. »Dass ihm seine Eroberungen aber nichts bedeuten, gar nichts, weil sein Herz seiner Jugendliebe gehört, der wunderschönen Sofia, der keine andere das Wasser reichen kann und mit der er seit Kurzem verlobt ist?«
Sie stutzte, etwas zog sich in ihr zusammen. Das pelzige Tier ringelte sich ein und biss sich in den Schwanz. Und die Musik in ihrem Kopf verstummte.
Abrupt wandte Clara sich ab. Sie wusste nicht, wie sie die Kraft aufbrachte, die Ca’ Minotti mit erhobenem Kopf zu verlassen, obwohl sie das Gefühl hatte, dass etwas aus ihr herausfloss. Unsichtbares Blut aus einer unsichtbaren Wunde.
Völlig aufgelöst lief sie kreuz und quer durch Venedig, bis ihre Füße sie nicht mehr trugen. Sie flüchtete in die nächste Kirche – es war Santa Maria di Miracoli –, setzte sich in eine der Kirchenbänke und legte die Stirn auf das kühle Holz, während Touristen aus und ein strömten und das angeblich wundertätige Marienbild bewunderten. Sie wusste nicht, wie lange sie dort sitzen blieb. Als ihr Herzschlag sich beruhigt hatte und sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, setzte sie sich in ein Café, trank einen Espresso und telefonierte mit ihrer Mutter, die auf die geplatzte Verlobung mit Verständnis, beinahe mit Erleichterung reagierte, aber trotzdem nach Venedig kommen wollte.
Clara suchte sich eine billige Übernachtungsmöglichkeit in Bahnhofsnähe und verschlief den halben nächsten Tag. Dann wartete sie, bis Paolos Fest in vollem Gange war, um ein letztes Mal in die Ca’ Minotti zurückzukehren. Wie eine Diebin schlich sie in den Westflügel, packte Noten, Bücher und die Kunststoffrolle mit dem Klimt in die beiden Kisten, mit denen sie eingezogen war. Die würde sie später abholen lassen. Schuhe und Kleider verstaute sie in ihrem Koffer und obenauf legte sie die Briefe ihrer Mutter und das Stück Platanenrinde, das sie als Andenken an ihr Salzburger Zuhause behalten wollte.
Den Schlüssel zur Villa Prachensky ließ sie zurück. Sie hätte dieses Geschenk nie annehmen dürfen. Auch den Flügel würde sie nicht mitnehmen. Wenn Paolo ihn und die Villa verkaufte, würde er wenigstens einen Teil seiner Ausgaben zurückbekommen. Als alles erledigt war, hatte sie ein Wassertaxi bestellt, sich ein letztes Mal umgesehen, den Koffer geschnappt und war zum Hinterausgang gegangen …
Und hier stand sie nun, blickte in die verhängnisvollen Kaffeeaugen, die ihr melancholischer vorkamen als je zuvor, und versuchte, ihr Herz in eine normale Gangart zurückzuzwingen und ihre butterigen Füße zu weiteren Schritten zu überreden. Sie wollte wütend sein, auf Daniele, den Kuss, diese Sofia. Aber sie konnte es nicht. Er hatte ihr nichts versprochen. Wenn sie sich Gefühle eingebildet hatte, die er nicht empfand, war es ihre Schuld. Außerdem musste sie ihm dankbar sein. Ohne ihn hätte sie weder die Rätsel der Vergangenheit lösen können, noch den Mut aufgebracht, mit Paolo Schluss zu machen.
Sie nickte ihm zu und schaffte es endlich, sich loszureißen. Bewältigte die letzten Stufen, sog gierig die kühle
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