Entscheide dich, sagt die Liebe
Nachtluft ein und bestieg das Wassertaxi, das sie bestellt hatte.
Es brachte sie zu dem Hotel, in dem ihre Mutter abgestiegen war. Sie schaute nicht zurück. Ihr Blick war auf die weißen Schaumkronen gerichtet, die beim Durchpflügen des Canal Grande entstanden. Wie ein Kondensstreifen am Himmel war die Bugwelle des Motorboots noch eine Weile deutlich zu sehen, ehe sie kleiner wurde, ausfranste und schließlich ins bewegte Wasser einging, als hätte es sie nie gegeben.
So würde es auch mit der unerwiderten Liebe sein. Ein Aufbäumen zuerst, das Tag für Tag schwächer wurde, bis es ganz verblasste und von den kleinen Unebenheiten des Alltags aufgesaugt wurde. Paolo würde sie bald vergessen, zumindest wünschte sie es ihm. Und sie, sie würde sich Daniele mit neuen Projekten austreiben. Mit viel Arbeit und noch mehr Musik.
Als Clara später mit ihrer Mutter auf der Veranda des Hotels saß, ein kleines Glas Rotwein trank, den die Venezianer ombra nannten, und endlich ausgiebig und fast schon vertraut mit der Frau sprach, die sie geboren hatte, flackerte die Traurigkeit in ihr nur noch auf kleiner Flamme.
Lidija prostete ihr zu. »Ich bin stolz auf dich.«
Clara hob fragend die Brauen.
»Darauf, dass du klüger bist als ich und die Käfigstäbe hinter dem Gold rechtzeitig erkannt hast.«
»Leider ein bisschen spät«, gab Clara zu.
Sie tranken und horchten dem Gurgeln und Schmatzen des Wassers zu, wenn ein Schiff vorbeifuhr und seine Wellen gegen die Mauern des Hotels warf.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Lidija nach einer Weile. »Gehst du nach Salzburg zurück?«
Clara schüttelte den Kopf. »Ich werde hierbleiben.« Sosehr sie sich auch in ihren Gefühlen Paolo und Daniele gegenüber getäuscht hatte, ihre Liebe zu dieser Stadt war über jeden Zweifel erhaben. Sie wollte die Geräusche und Gerüche Venedigs nicht mehr missen.
»Du wirst Geld brauchen.«
»Ich suche mir einen Job. Und eine kleine, nein, eine winzige Wohnung.«
»Clara, ich bin nicht reich. Aber ich brauche nicht viel und habe mir ein paar Notfalleuros für schlechte Zeiten angespart. Ich möchte dich unterstützen.«
»Danke, das ist sehr großzügig von dir.« Sie fasste sich ein Herz. »Für den Anfang möchte ich dein Angebot gern annehmen. Nur für die ersten ein, zwei Monate, bis ich Fuß gefasst habe. Dann zahle ich dir alles zurück.«
Lidija strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und was ist mit deiner Karriere? Du bist auf dem Weg, eine fulminante Pianistin zu werden, eine internationale Größe. Mit einem Job lässt sich das schlecht vereinbaren.«
»Meine Karriere …« Sie ließ ihren Finger am Rand des Weinglases entlanggleiten und lauschte auf den feinen singenden Ton, der dabei entstand. »Bisher war ich ein hundertprozentiges Geschöpf meines Vaters. Wie eine Marionette, die an den Fäden eines Puppenspielers hängt.« Eine Vision von Kaffeeaugen flackerte auf, aber sie schob sie weg. »Jetzt bin ich erwachsen und werde nicht mehr mitspielen. Nicht mit den Karten, die andere für mich gemischt haben. Es ist Zeit, meinen eigenen Weg zu gehen.«
Ihre Mutter nickte. »Und du glaubst, dass die Musik nicht dein Weg ist?«
Eine Reminiszenz an das Widudndau und das Yoi-doi-doi klang auf. »Ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht genau. Bisher war ich so damit beschäftigt, die Rolle zu erfüllen, die man mir übergestülpt hat, dass ich noch keine Zeit gehabt habe, über Alternativen nachzudenken.« Clara verschränkte ihre Arme. »Aber dieser Drill, den das klassische Musikbusiness erfordert, wenn man ganz vorn stehen will, dieses Absolvieren von Wettbewerben, dieses stundenlange Üben und Trainieren, als hätte Musik mit Spitzensport zu tun, das kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.« Sie besann sich ihrer nicht vorhandenen Freunde, der nicht gelesenen Bücher, der nicht gedachten Gedanken. Wie viel sie versäumt hatte, weil das Absolvieren von Trillern, Skalen, Arpeggien und Glissandis wichtiger war. »Ich will auch noch für anderes Zeit haben. Für Dinge und Menschen, die mir am Herzen liegen.«
Lidija wiegte den Kopf. »Ich bin gespannt auf deinen Weg, wie er auch aussehen mag.«
Sie schwiegen noch lange miteinander und schauten ins Wasser, das immer schwärzer wurde und die Lichter des Hotels wie Sterne spiegelte.
D as Fest war vorbei.
Mit dem Verschwinden der letzten Gäste befiel Paolo eine bleierne Müdigkeit. Seine Beine fühlten sich wie Zementsäcke an, die Mundwinkel
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