ENTSEELT
schärfen, wie viel von der Persönlichkeit seines Vaters wird dann übrig bleiben? Wird überhaupt etwas von Harry senior zurückbleiben?
Harrys einziger Ausweg ist das Möbius-Kontinuum. Dort kann er immer noch herumreisen – aber nur, wenn sein neugeborener Sohn schläft und nur als körperlose Entität. Das ist zurzeit Harrys größtes Problem: Das Fehlen eines Körpers. Er hat aber noch ein weiteres Problem: Während er die Unendlichkeit der zukünftigen Zeitströme untersucht hat, hat er unter den Milliarden blauer Lebensfäden der Menschheit einen roten entdeckt – einen Vampir, der sich unter den Menschen verbirgt. Und schlimmer noch, der Lebensfaden kreuzt den des jungen Harrys in allernächster Zukunft!
Harry überprüft die Sache. (Er ist zwar körperlos, aber das sind die Toten auch; er kann auch weiterhin mit ihnen sprechen, und sie sind immer noch in seiner Schuld.) Im September 1977 spricht er mit dem Geist von Thibor Ferenczy – der nicht länger untot, sondern tatsächlich vergangen und damit kein Vampir mehr ist –, dort, wo sein Grab über die kreuzförmigen Hügel der Transsilvanischen Alpen wacht, und dann auch mit Thibors Vater, Faethor Ferenczy, der während des zweiten Weltkriegs bei einem Bombenangriff auf Ploiesti, in der Nähe Bukarests, umkam. Die Ruinen der zerstörten Häuser existieren immer noch und sind von Gestrüpp und Unkraut überwuchert.
Selbst im Tod sind Vampire hinterlistig und notorische Lügner; sie manipulieren, terrorisieren und betrügen weiterhin, wenn sie die Gelegenheit bekommen. Aber Harry hat nichts zu verlieren, und Thibor hat viel zu gewinnen. Mit einer einzigen Ausnahme ist Harry Thibors letzter verbliebener Kontakt zu einer Welt, die er einst beherrschen wollte. Bei der Ausnahme handelt es sich um eine schwangere Frau, die der Vampir 1959 infizierte. Mit den Künsten der Wamphyri berührte und verwandelte er den männlichen Embryo, sodass dieser sich eines Tages, wenn er zum Mann herangewachsen ist, an ihn erinnern und in diese Berge zurückkommen würde, um seinen wahren Vater zu befreien.
Mittlerweile ist es 1977 und Yulian Bodescu ist, obwohl noch nicht einmal achtzehn, ein seltsam frühreifer und bisweilen auch furchteinflößender junger Mann. Wenn man ihn näher kennenlernt, verspürt man Angst und Abscheu. Thibor Ferenczys verderbtes Erbe hat vollkommen von ihm Besitz ergriffen, sein Blut und seine Seele sind vergiftet, denn er entwickelt sich zu einem wahren Vampir.
Yulians Mutter ist Engländerin, sein rumänischer Vater vor Jahren gestorben. Mutter und Sohn leben abgeschieden in Harkley House in Devon. Er ist unaufhörlich hin und her gerissen zwischen Verbitterung und Gier. Sie lebt mit ihm zusammen wie ein Huhn, das mit einem Fuchs zusammengesperrt wurde, denn sie weiß, dass er böse und zu grausigen Dingen fähig ist, aber sie fürchtet ihn zu sehr, um ihn öffentlich anzuklagen. Und da sie sich seit seiner Kindheit um ihn gekümmert hat, hofft sie immer noch, dass er sich ändern wird. Und das tut er auch – rasant – aber nicht zum Besseren.
Yulian erahnt seine wahre Natur: Er träumt immerfort von reglosen Bäumen, finsteren, wie ein Kreuz geformten Hügeln, einem Grabmal auf einer abgeschiedenen Lichtung an einem Berghang ... und von dem alten Wesen, das einst dort im Boden lag. Und von dem, was es dort für ihn zurückließ! Der rote Vampirfaden, der einst Thibor war und jetzt Yulian ist, zerrt an ihm, drängt ihn dazu, seinen Vater zu besuchen. Es ist der gleiche Faden, den Harry Keogh im zukünftigen Zeitstrom des Möbius-Kontinuums gesehen hat, wo er auf den leuchtend blauen Lebensfaden seines Sohnes traf.
Aber noch während Harry sich ein spitzfindiges Wortgefecht mit der uralten Weisheit und der unübertrefflichen Gemeinheit des unvergänglich bösen Wamphyri liefert, belauern die ESPer des britischen E-Dezernats das Harkley House in Devon. Mit ihren telepathischen Fähigkeiten warten sie nur auf Harrys Kommando, um das Anwesen zu stürmen und Yulian und jede andere infizierte Person, die sie dort antreffen, auszuschalten. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, denn sie wissen, falls eine solche Person – oder so ein Wesen – entkommen sollte ... dann würde sich der Vampirismus wie ein Lauffeuer im Land, vielleicht sogar über die ganze Welt ausbreiten.
Währenddessen haben sich in Rumänien Alec Kyle und Felix Krakovic, die augenblicklichen Leiter der jeweiligen ESP-Organisationen, zusammengetan, um das zu vernichten, was
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