Entsorgt: Thriller (German Edition)
das. Und sie wusste, dass er es wusste. Das war vermutlich der Grund für ihr rüdes Benehmen ihm gegenüber. Und im Nachhinein dämmerte ihm plötzlich, dass er das Gespräch taktisch geschickter hätte angehen können.
»Ich mein ja nur, ich könnte dir helfen. Weißt du, dich abfragen und so.«
Sie kannte ihn zu gut. Diese Empathie unter Geschwistern war nie uneigennützig.
»Was willst du?«
»Nichts. Wieso? Ich dachte bloß, wir könnten …«
Er bemerkte, wie sie ihn musterte. Er vermochte ihrem Blick nicht lange standzuhalten und schaute weg. Dann sah er zu Boden. Das war ein Fehler.
»Es geht um ein Mädchen, hab ich Recht?«
»Quatsch.«
Aber jetzt hatte sich ihre Stimmung geändert. Sie war neugierig. Wundersamerweise – und es war unmöglich zu sagen, wie lange dieser Zustand anhalten würde – war sie nicht mehr sauer. Dieser Stimmungswechsel ließ ihn zweimal darüber nachdenken, ob es clever wäre, ihren Rat zu erbitten.
»Also ein Junge?«, fragte sie, sich der Macht ihrer Worte bewusst.
Vielleicht hatten sie schon zu viele Geheimnisse miteinander geteilt. Aber eigentlich war er es doch, der über die Jahre sein Innerstes nach außen gekehrt hatte. Warum war er nur so dämlich? Warum traute er ihr immer noch, obwohl sie ihr Wissen dazu benutzte, um ihn fertigzumachen?
»Ich steh nicht auf Jungs.«
»Im Moment wohl nicht.«
»Vergiss es, Agatha.«
Sie bei ihrem vollen Namen zu nennen, war die einzige kleine Waffe, die er gegen sie zur Verfügung hatte. Diese zu gebrauchen, würde sie jedoch nur wissen lassen, wie tief sie ihn getroffen hatte, was ihr noch mehr Genugtuung verschaffte – falls es das war, wonach sie strebte. Obwohl es ihm zuwider war, die Verbindung zwischen ihnen zu kappen, drehte er sich von der Tür weg und zog sie hinter sich zu. Denn ihm war klar, dass er einen Teil seiner Persönlichkeit schützen und bewahren musste, wenn er alleine zurechtkommen wollte.
Noch bevor er zwei Schritte getan hatte, stand sie im offenen Türrahmen.
»Warte, Don. Es tut mir leid.« Er hielt inne, kehrte ihr aber weiterhin den Rücken zu. »Ich weiß, ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich … ach, komm schon. So bin ich nun mal, okay? Ich bin eine Ratte. Ich bin von allem und jedem angepisst. Ich will einfach nur hier raus, aber ich kann nicht. Verstehst du das?«
Er nahm an, dass er genickt hatte.
»Komm rein. Mach die Tür zu, dann reden wir. Ich werde dir helfen, versprochen.«
Sie klang einigermaßen aufrichtig, aber es war immer noch möglich, dass sie ihn bloß verschaukelte. Er drehte sich um und sah sie an. Die Bosheit war weg. Der Drang, ihn zu demütigen, war verschwunden. Sie wollte ihn wieder in ihrem Leben. Gott, die Tatsache, wie unentbehrlich die Liebe seiner Schwester für ihn war, bestürzte ihn. Er wusste nicht, was er täte, wenn sie ihren Träumen folgen und er sie nie wiedersehen würde. Mit wem sollte er dann reden? Wer würde ihn verstehen?
Sie trat aus der Tür, um ihn vorbeizulassen, aber er zögerte. Er bewegte sich nicht. In ihr Zimmer zu gehen, hieße, den Pfad in eine Zukunft zu beschreiten, in der er ohne Agathas Schutz erwachsen werden müsste. Sie liebte ihn. Sie stand ihm bei. Es gab sonst niemanden, mit dem er über diese Dinge sprechen konnte. In ihr Zimmer zu gehen, hieße, der Zeit einen Schritt näher zu kommen, in der es keine Agatha mehr in seinem Leben gab. Er hatte keine Ahnung, woher all diese Gefühle und diese Leidenschaft kamen. Er wusste bloß, dass alles, woran er dachte, schmerzhaft war. Das Leben war ein Regenbogen aus Schmerz, und er war sich nicht sicher, ob er mit dem Verlust einer der Farben leben konnte.
»Steh nicht heulend da rum, Donny. Komm rein.«
Erst jetzt bemerkte er, dass sein Gesicht ganz feucht war.
»So’n Scheiß«, sagte er, als er ins Zimmer trat.
Das Erste, was sie tat, war, ihn in den Arm zu nehmen und fest zu drücken. Und er weinte unaufhörlich und wusste nicht einmal, warum.
Bildhafte Fragmente von Masons Gedächtnis bedeckten die Wände. Gerade starrte er auf eine der wenigen Farbfotografien, die er jemals behalten hatte.
Die Lichtquelle auf dem Bild war ein kleines Fenster und leuchtete die Szenerie kaum aus. Dem bisschen Tageslicht hätte ein Blitz definitiv den Garaus gemacht und damit zerstört, was er in diesem Moment gesehen hatte. Nie war er näher daran gewesen, einen Augenblick in seiner Gänze und Wahrhaftigkeit zu erfassen. Was nichts damit zu tun hatte, dass es ein Farbfoto war: Die
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