Entsorgt: Thriller (German Edition)
zusammen. Er drehte das Bündel herum, so dass es nicht aufging. Er schlug mit einem Zimmermannshammer auf das Bündel ein, bis sich nur noch Splitter und Pulver darin befanden. Er warf sämtliche demontierten und zerstörten Teile der Festplatte in einen schwarzen Müllsack, den er im Kofferraum seines Volvos verstaute. Früh am nächsten Morgen würde er unter dem Vorwand, den Wagen vollzutanken, losfahren und den Müllsack in die gewaltige Schrottpresse der Müllkippe werfen. In ein paar Tagen würde dessen Inhalt dann unauffindbar auf dem Grund der riesigen Deponie liegen.
Und erst dann würde er wieder atmen können.
Anfangs ist es ein wundervolles Gefühl, durch die Luft zu schweben. Sie fühlt sich schwindelig, federleicht durch und durch.
Dann erblickt sie in der Ferne das Gebäude, hoch in den Himmel hinaufragend und ihn doch niemals erreichend. Ohne es zu wollen, fliegt sie langsam vorwärts. Sie hat keine Kontrolle darüber. Sie fliegt nicht, sie wird geflogen, ist gezwungen zu fliegen. Was immer sie fliegen lässt, könnte sie vermutlich auch fallen lassen. Die Erde liegt sehr weit unter ihr, der Sturz würde ewig dauern. Sie hat das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen, ihr einziger Halt alles andere als vertrauenswürdig. Ein Karabinerhaken, der schadhaft sein könnte. Ein Gürtel, der womöglich alt und verschlissen ist. Oder vielleicht etwas Schlimmeres: die bloße Laune eines anonymen Peinigers, irgendeines Wesens, dem sie vertrauen muss, obwohl es die Macht besitzt, sie zu zerstören.
Beständig damit rechnend, ihr Gleichgewicht zu verlieren oder gestoßen zu werden, treibt sie auf das Gebäude zu.
Als sie es erreicht und sieht, wie der Turm sich nach unten hin zu einem Faden verdünnt, da wird ihr klar, wie hoch er tatsächlich ist: kilometerhoch. Vielleicht fünfzehn Kilometer vom Dach bis zum Fundament. Stahl, Glas und Beton. Das Wesen, das sie hält, lässt sie los. Und sie beginnt zu verstehen, was es heißt, wahrhaftig zu fallen. Der Wind weht ihr entgegen, zerrt an ihr, ist aber nicht stark genug, um ihren Sturz zu bremsen. Da ist dieses Gefühl, dass Teile ihres Innenlebens hinter ihr zurückbleiben. Kein Netz, kein Fallschirm, keine Sicherheitsleine, kein hervorstehender Ast oder Vorsprung.
Das Wesen will sie noch nicht sterben lassen. Es will, dass sie etwas sieht. Sie hört auf zu fallen. Der Sturz wird nicht langsamer, er stoppt einfach abrupt. Was bei dieser Geschwindigkeit überaus schmerzhaft ist. Dann wird sie wieder in die Höhe gerissen, fliegt gegen ihren Willen zurück zum Dach des Gebäudes.
Sie sieht das Baby und hat das Gefühl, es schon tausendmal gesehen zu haben: die ledrigen Ballen an den Händen, Knien und Füßen, die Blutergüsse am Kopf. Das Wesen hat sie hierhergebracht. Denn ganz egal, wie viele Jahrhunderte das Baby dieses Dach schon absucht, seine Reise hat gerade erst begonnen.
Da ist etwas Neues. Es kommt ihr so bekannt vor, aber sie kann sich nicht erinnern, ob es vorher schon dort war oder nicht. Jetzt, wo sie es sieht, nimmt sie an, dass es schon immer dort war. Das Baby hat ein Oberlicht gefunden. Es besteht aus gläsernen Schrägen, die zu einem niedrigen Giebel zusammenlaufen. Das Baby weiß nicht, was ein Oberlicht ist. Das Baby kennt weiter nichts als den unbändigen Willen, zu krabbeln und zu suchen.
Vor lauter Aufregung, vielleicht etwas Neues entdeckt zu haben, klopft es erwartungsvoll gegen eine der Glasplatten. Seine Hände und Knie klatschen gegen das Glas, als es die sanfte Steigung einer Glasscheibe hinaufklettert, die um ein Vielfaches größer ist als das Baby selbst. Es ist ein neues Gefühl unter seinen Fingerkuppen. Kalt, ja, aber glatt und angenehm.
Ein Riss erscheint. Er produziert ein kratzendes, ächzendes Geräusch, das Baby hält einen Augenblick inne. Ein Geräusch! Ein anderes Geräusch als das Schaben seiner zerschundenen Glieder auf dem Beton. Tagein, tagaus. Jahr für Jahr. Sie sieht, dass der Riss direkt unter dem Baby ist. Wenn es weiterkrabbelt, gelingt es ihm vielleicht, den Giebel oder zumindest eine stärkere Glasscheibe zu erreichen.
Das Baby lacht, bloß einmal, eine Art gurgelndes, triumphierendes »Ha!«. Es ist sich nun sicher, etwas Neues entdeckt zu haben.
Das Glas bricht.
Das Baby stürzt in die Tiefe.
Sie folgt ihm hinab.
4
Es gab auch ein Foto von der Frau des Farmers, das an einem anderen Tag aufgenommen wurde.
Die Gelegenheit, die beiden gemeinsam zu fotografieren, hatte sich irgendwie nie
Weitere Kostenlose Bücher