Entsorgt: Thriller (German Edition)
mochte, hielt es dennoch bloß einen Bruchteil des Ereignisses, ein Bruchstück der Person, einen Schatten des Geschehens fest. Es war, als versuchte man Schneeflocken einzufangen und zu konservieren. Und eben diese Unmöglichkeit verabscheute er jetzt.
In derartigen Augenblicken, in denen er sich in Erinnerungen verlor oder zumindest feststellte, dass sein Gedächtnis so fehlbar war wie das der Kamera, fand er dennoch immer auch Leidenschaft. Er hatte aus Wut und Frustration heraus fotografiert, und genau das war es, was die Kamera festgehalten hatte. Mason war ein Beisitzer des Lebens, einer dieser Menschen, die auf Partys die Gäste mustern und beurteilen, statt sich mit ihnen zu unterhalten. Und wenn er mit ihnen redete, dann dienten ihre Worte bloß zur Bekräftigung seiner Einschätzungen. Das Leben in London, das Leben als Fotograf und all die Partys, die damit einhergingen, war deshalb nicht sein Fall gewesen. Und doch hatte er seine besten Bilder – zumindest die, die andere als seine besten bezeichneten – auf einigen dieser Veranstaltungen gemacht. Immer dann, wenn er sich aufgrund seiner Unfähigkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, entfremdeter fühlte als jemals zuvor, fing er exakt jenes Detail eines Gesichts, einer Geste ein, welches das Motiv später sehenswert machte.
Rockstars, Schauspieler, Kritiker, Debütantinnen, Lords und Ladys, Journalisten, Paparazzi, Escortgirls und Gigolos, Dealer und Zuhälter. Er hatte sie alle mal vor der Linse gehabt, und letztendlich hatte ihm das drei Dinge eingebracht: Ruhm, Geld und einen Nervenzusammenbruch. Dass seine Arbeit als derart einflussreich betrachtet wurde, war für Mason unbegreiflich. Sie nannten ihn ein Genie, was ihm mehr als das angemessene Maß an Hass und Verehrung einbrachte. Die Jahre, die er in der Londoner Szene verbracht hatte, machten ihn berühmt. Für ihn war es die ultimative Ironie: Ausgerechnet ihn, der keine Persönlichkeit besaß, erkor London zur Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, stellte ihn ins Rampenlicht. Er war sogar Gast in diesen Late-Night-Talkshows gewesen, in denen nie ein vernünftiges Gespräch zustande kam, weil die meisten Gäste und selbst die Moderatoren zu stoned oder zu besoffen waren. Damals hatte man dergleichen noch für hoch intellektuelles Kunstfernsehen gehalten. In Wahrheit war es narzisstischer Scheißdreck der übelsten Sorte. Niemand dürfte dafür bezahlt werden, bei so etwas mitzumachen, aber alle waren dabei.
In gerade einmal drei Jahren hatte es Mason auf den Olymp der Fotografie geschafft. Zwei Jahre später war er für immer aus London und der Fotografenszene verschwunden. Und kein Mensch wusste, wohin. Es ging das Gerücht um, er habe sich in eine Entzugsklinik einweisen lassen, aber in Wahrheit hatte Mason nie das nötige Stehvermögen zum erfolgreichen Drogenmissbrauch besessen. Sobald er seinem Körper von irgendetwas zu viel zuführte, wurde er krank. Außerdem vernebelten Rauschmittel sein künstlerisches Auge, weshalb er es vorgezogen hatte, die Finger davon zu lassen.
In Wirklichkeit war er aus seiner Wohnung ausgezogen, hatte inklusive des Großteils seiner Fotoausrüstung alles verhökert, was er besaß, und sich ein kleines Wohnmobil gekauft. Er verließ die Stadt in seinem neuen Zuhause und hielt nicht eher an, bevor er die Nordküste Schottlands erreicht hatte. Er besaß genug Geld, um bis zu seinem Tod ein sorgenfreies Leben führen zu können. Stattdessen lebte er wie ein Einsiedler, aß kaum, marschierte jeden Tag viele Meilen, bevor er zu seinem rollenden Heim zurückkehrte, immer noch voller Hass auf sich selbst und auf das, was er geworden war. Und er war immer noch nicht in der Lage zu definieren, wer oder was er wirklich war.
Die karge schottische Wildnis schmerzte ihn mit ihrer Leere kaum weniger, als Londons Übervölkerung und Amoralität es getan hatten. Es gab keinen nennenswerten Baumbestand, bloß endlose Reihen heidebewachsener Bergketten, über die der Wind hinwegfegte. Seine Augen brauchten mehr als das, also brach er erneut auf, fuhr die Westküste hinunter bis zum Lake District und weiter bis nach Wales. Am äußersten Ende von Snowdonia, in der Nähe der Küste, fand er eichenbestandene Hänge, von wo aus er den Ozean riechen und sehen konnte. Die Hügel waren still, die Eichen alt und knorrig. Nachdem er einige Tage lang Waldwege und Trampelpfade erkundet hatte, war er inmitten eines riesigen, unbewohnten Landstrichs auf eine abgelegene Farm
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