Entsorgt: Thriller (German Edition)
Aggies Finger griffen ins Leere.
»Geben Sie sie mir zurück.«
»Ich denke, ich sollte sie behalten, um sie deinen Eltern zu zeigen. Und wohl auch der Polizei.«
»Die gehören mir«, sagte Aggie. »Sie sind mein Eigentum. Wenn Sie sie mir nicht auf der Stelle wiedergeben, werde ich selbst die Polizei rufen.« Sie holte ihr Handy aus der Tasche und begann eine Nummer zu tippen. »Ich muss bloß noch die Wahltaste drücken und bin mit der Polizei verbunden. Wollen Sie tatsächlich, dass die herkommen und Sie mitten auf der Straße wegen Diebstahls vernehmen? Wie wird das wohl in Ihrer geliebten Kirche ankommen, hä?«
»Solche Fotos sind illegal.«
»Ob Sie es glauben oder nicht, Mrs. Ahern, ich kenne die entsprechenden Gesetze, denn ich habe vor, das, was Sie da sehen, zu meinem Beruf zu machen. Nichts an diesen Bildern ist illegal. Die Polizei wird das genauso sehen. Ich muss sie lediglich bitten, hierherzukommen und sich einen Eindruck zu verschaffen. Und jetzt geben Sie mir mein Eigentum zurück.«
Frau Blockwart schien unfähig, die Bilder zurückzugeben, ohne dass ihr Blick von dem, was die beiden Schwarz-Weiß-Fotografien zeigten, immer wieder magisch angezogen wurde. Erst als Aggie ihr die Fotos aus den Händen wand, schien sie wieder richtig zu sich zu kommen.
»Du bist verdammt auf alle Ewigkeit«, war alles, was sie noch zu sagen hatte.
Aggie schnaufte.
»Ich bin nicht verdammt. Ich bin befreit.«
Sie legte die Fotos vorsichtig zu den anderen zurück in die Mappe, die sie jetzt, da der Knauf verbogen war, mit den Fingern geschlossen halten musste. »Ich werde an Sie denken«, sagte sie zu der verrückten einsamen Frau, die da vor ihr stand. »Ich werde bestimmt oft an Sie denken, wenn ich weit weg von hier lebe und Sie immer noch allein in dieser Hölle verrotten und nichts anderes zu tun haben, als zu beten und rumzuschnüffeln.«
Sie drehte Mavis Ahern den Rücken zu und eilte davon. Die unschöne Begegnung vermochte ihre Freude darauf, die Fotos endlich allein in ihrem Zimmer betrachten zu können, nur geringfügig zu dämpfen. Einige der Bilder waren im Rinnstein schmutzig geworden. Sie würde ihn um neue Abzüge bitten müssen. Je eher sie aus Meadowlands und Shreve verschwinden konnte, desto besser. Ihrem Ziel, dieses Drecksloch für immer hinter sich zu lassen, war sie jetzt einen Schritt näher. Einen riesigen Schritt.
Teil II
»Alles lebt …«
Eintrag aus Mason Brands Tagebuch vom 19. Juni 2001
8
Mason Brand verband mit dem Zyklus der Jahreszeiten genau die Art von Gewissheit, auf die man sein Leben gründen konnte.
Die Wettervorhersage wiederum war ein Zeitvertreib für Spinner. Speziell in diesem Frühling. Auf die meteorologischen Extreme der letzten Tage hatte keine Prognose die Leute vorbereiten können. Der Montag war derart kalt, klar und trocken gewesen, dass die Luft förmlich knisterte. Am Dienstag fiel der Regen warm und schwer wie ein Monsun. Bereits am Mittwoch war die Kälte zurückgekehrt, und der Regen hatte sich in Schnee verwandelt: zehn Zentimeter, die alsbald zu einer deprimierenden braunen Matsche wurden.
Laut Wetterbericht waren Stürme im Anmarsch.
Mason ignorierte derartige Vorhersagen grundsätzlich. Jeden Tag zog er aufs Neue seinen breitkrempigen gewachsten braunen Hut sowie einen Mantel aus demselben Material an, bevor er ins Gemüsebeet ging. Unter dem Mantel trug er, für alle Fälle, drei weitere Kleidungsschichten. In einer verwitterten, mit einem Vorhängeschloss gesicherten Hütte am hinteren Ende des mittleren seiner drei Beete bewahrte er seine Werkzeuge auf. Neben einem Kiefernholzstuhl vom Sperrmüll stapelten sich auf einem schmalen Bord die wenigen gebundenen Romane, die er aus den Grabbelkisten des Recycling-Zentrums geborgen hatte. Die Schutzumschläge waren längst dahin und die Bücher fleckig und wellig von Feuchtigkeit. Er las darin, wenn er kurz vom Umgraben pausierte oder der Regen zu stark war. Er fühlte sich wohl in der Hütte, denn die Membran zwischen ihm und der frischen Luft war hier durchlässiger als im Haus.
Die Tage rochen sauber und blau. Ein hartnäckiger Wind vertrieb die winterliche Schläfrigkeit aus der Landschaft und befreite die Bäume von ihren toten Blättern. Zwischen den klaren Tagen und den Stürmen kamen und gingen die Schauer mit der Leichtigkeit von Kindertränen. Prustend, weinend und lächelnd mühte sich die Natur mit ihren Wiederbelebungsversuchen, voller Ungeduld, dass das Land endlich
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