Entsorgt: Thriller (German Edition)
gegenüberliegenden Straßenseite. Die Hexe stand auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus. Gott wusste, wie lange sie da schon Wache schob. Aggie hatte nicht auf sie geachtet. Diesmal war sie nicht scharf auf eine Konfrontation.
»Nach Hause«, antwortete sie und gab sich alle Mühe, ihrer Stimme weder Vorfreude noch die unerwartete Frustration anhören zu lassen.
»Und wo kommst du her?«
Jetzt ging die Alte eindeutig zu weit.
»Das geht Sie gar nichts an.«
»Das tut es sehr wohl, falls du irgendwas angestellt hast. Sollte ich zu der Einsicht kommen, dass du dich in Schwierigkeiten bringst, bleibt mir nichts anderes übrig, als deine Eltern zu informieren.«
Aggie stand da, und obwohl sich ihr Mund bewegte, kam ihr kein Wort über die Lippen. Was bildete diese Frau sich ein? Wie kam die alte Vettel auf den Trichter, irgendetwas mit Aggies Privatleben zu schaffen zu haben? Entschlossen, diese Angelegenheit ein für alle Mal zu erledigen, schritt Aggie auf Mrs. Ahern zu und blickte ihr dabei geradewegs in die Augen. Auch der Blick dieser Frau hatte etwas Fanatisches, aber nichts, das mit der Macht in den Augen von Mason Brand vergleichbar gewesen wäre. Brand sah die Dinge, wie sie wirklich waren. Die alte Hexe sah sie durch eine trübe, gebrochene Linse. Als sich Aggie ihr näherte, schien die ältere Frau zurückzuweichen. Höchstens um einen Millimeter, aber das reichte vollkommen aus.
»Irgendjemand hätte Ihnen das schon vor langer Zeit sagen sollen, Mrs. Ahern: SIE sind eine traurige, einsame alte Frau, die nichts Besseres zu tun hat, als ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Ich bin es leid. Wenn Sie meiner Mutter und meinem Vater etwas zu sagen haben, dann kommen Sie mit und sagen Sie es ihnen. Und zwar jetzt sofort.«
Mrs. Ahern war einen Augenblick lang sprachlos.
»Na los, Sie alte Spannerin. Kommen Sie mit und erzählen Sie es meinen Eltern.«
»Wie hast du mich genannt?«
»Das haben Sie schon richtig verstanden.«
Aggie griff nach Mrs. Aherns Handgelenk und begann sie den Bürgersteig entlangzuzerren. Die Frau war stärker, als sie aussah, aber das konnte Aggie nicht aufhalten.
»Los jetzt, wir gehen und klären das mit ihnen. Ich will diesen Scheiß erledigt haben.«
»Lass mich sofort los. Das ist Nötigung.«
»Als wenn Sie überhaupt wüssten, was dieses Wort bedeutet.«
Mavis befreite ihren Arm aus dem Zugriff Aggies, die dadurch ins Stolpern geriet. Die Mappe entglitt ihren Fingern. Als sie auf den Bürgersteig aufschlug, traf der Metallknauf die Bordsteinkante und verbog sich. Das Gummiband schnappte auf. Seidig schimmernde Schwarz-Weiß-Fotografien glitten in den Rinnstein. Aggie war wie versteinert: Da lagen ihre Geheimnisse, auf die Straße gespuckt. Dann bückte sie sich, um die ausgespienen Innereien ihres brandneuen Portfolios zusammenzuklauben. Mavis Ahern kam ihr zuvor. Sie hatte sich zwei der Bögen geschnappt, bevor Aggie den Rest zusammengesammelt und sie zurück in ihre schützende Hülle gestopft hatte.
Aus irgendeinem Grund versuchte Aggie nicht sofort, sie ihr wieder zu entreißen. Hier und in diesem Moment sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben jemand so, wie sie immer schon gesehen werden wollte. Es war ihre Eitelkeit, die sie zögern ließ, und nicht die Absicht, sich ausgerechnet Frau Blockwart auf diese Art präsentieren zu wollen. Sie bereute es auf der Stelle. Diese Bilder waren immer noch … irgendwie persönlich. Aggie hatte sie noch nicht einmal selbst gesehen, und jetzt grabbelte diese durchgeknallte Xanthippe mit ihren schmierigen Griffeln darauf herum.
Doch Aggie verharrte weiterhin bewegungslos. Sie beobachtete den Gesichtsausdruck der Hexe. Was sie sah, empfand sie als befriedigend. Eingeschüchtert von der Kunstfertigkeit der Fotografien und der Schönheit Aggies, reagierte die Frau voller Neid und Ekel. Aggie sah die Flamme des Selbsthasses in ihrem Blick auflodern, bevor sie begann, über die Bilder, die sie in der Hand hielt, herzuziehen.
»Schmutz und Schande. Was stimmt nicht mit euresgleichen?«
Das war’s, oder? Frau Blockwart hielt sich für etwas Besseres als den Rest der Gemeinde – zumindest als jene, die nicht zur Kirche gingen oder ihr Leben nicht nach ihren jammervollen, freudlosen Moralvorstellungen ausrichteten. Für sie war Aggie eine Art heidnischer Invasor in ihre perfekte religiöse Welt. Aggie ergriff ihre Chance und schnappte nach den Fotos. Wieder war Mavis Ahern deutlich flinker, als sie erwartet hatte.
Weitere Kostenlose Bücher