Entsorgt: Thriller (German Edition)
darauf ansprach. Und klammheimlich, genau dann, wenn es dachte, gerade würde niemand hinsehen, kehrte das Leben zurück.
Das tat es immer.
Als Erstes rollte Mason die nassen, schimmeligen Teppichstreifen zurück, die das Licht von der darunterliegenden Erde abgehalten hatten.
Auf dem Boden unterhalb der Teppichfetzen wimmelte es von umherwuselnden Käfern mit schimmernden Panzern und graubraunen Asseln, die hektisch nach Deckung suchten. Rostrote Tausendfüßler wanden und krümmten sich, als müssten sie, einmal dem Licht ausgesetzt, qualvoll verbrennen. Ameisen, deren perlschwarze Körper stecknadelkopfgroß das Himmelslicht reflektierten, marschierten durch die irrwitzigen Korridore, die sie den Winter über konstruiert hatten. Würmer, sich eben noch in Sicherheit wähnend, steckten die Köpfe in den Sand und entzogen sich schleunigst Masons Blick. Einige wenige weiße Stränge und Würzelchen hatten die Dunkelheit überlebt, allerdings ohne weiterzuwachsen. Das plötzliche Licht würde ihnen den Rest geben. Platt gedrückt vom Gewicht des Teppichs, aber frei von Unkraut, war der Boden bereit für Masons Harke und Schaufel. Er bettelte geradezu darum, aufgebrochen und besät zu werden. Das volle, feuchte, schmutzige Aroma stieg ihm in die Nase und ließ ihn geifern und grinsen. Dieses Enthüllen, dieses Entkleiden der Krume, war sein liebster Moment des Jahres.
Sein Schuppen verfügte über ein kleines Fenster, das er straff mit Maschendraht bespannt hatte, um potenzielle Diebe nicht dazu einzuladen, sich an seinen Gartengeräten zu bedienen. Das Fenster rahmte einen Ausblick auf Shreves Müllkippe: über die Gartenmauer seines Hauses, den kleinen Park mit dem Spielplatz und das die Deponie umgebende Brachland hinweg. Wenn er von einem seiner Bücher aufblickte, waren die Möwen über der Müllhalde das Erste, was er sah. Hunderte von ihnen schaukelten in der Luft, wie in einem langsamen, flüssigen Wirbelwind gefangene Partikel. In einem unmöglich vorauszusagenden Moment würde die Windhose sie ausspeien. Sie würden zu Boden fallen, und ihre weißen Rücken verschwänden in der Camouflage der Abfallberge.
Eigentlich war kaum etwas zu sehen. Die Deponie hatte man wohlweislich so angelegt, dass sie die Landschaft möglichst nicht über die Maßen verschandelte. Alles, was man sah, war ein sich seitlich der Halde ausbreitender Bereich aus buntem Abfall. Jeden Abend wurde dieser neu aufgeschüttete Müll von Maschinen mit Erdreich abgedeckt. In der Richtung, in die dieser massive Fluss kroch, erwarteten von Menschenhand ausgehobene Täler – ehemalige Tagebauflöze – die heranwalzende Flut. Die Landschaft wandelte sich derart schleichend, dass es, selbst innerhalb einer Tagesfrist, unmöglich war zu benennen, was genau sich eigentlich veränderte. Doch die Landschaft veränderte sich, und zwar unaufhörlich. Diese Art von Entsorgung wurde im ganzen Land praktiziert. Was man nicht hier verklappen konnte, wurde nach Übersee verschifft. Mason fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Welt sich selbst unter einer Kruste aus Abfall ersticken würde. Dann würde die Erde wie ein zusammengeknüllter Altpapierball durchs All trudeln – tot und verbraucht.
Er grub seine Beete um. Er las. Er säte. Er beobachtete den trudelnden Flug der Möwen und den kriechenden Müllstrom.
Wenn der Wind sich drehte, trug er die übelriechenden Geister einer Milliarde fortgeworfener Dinge mit sich. Einige davon abbaubar, andere nicht. Masons Nase konnte jede einzelne dieser Komponenten bestimmen. Er roch die kompostierten Spitzen, Enden und Schalen von Früchten und Gemüsen; nichts davon so gesund wie das, was er anbaute. Er roch schmierige Speisereste: ungenießbare Innereien, Tierknochen und Fett. Er roch die gärenden Exkremente, eingeschlossen in wattierte Windeln, und bangte um die Gesundheit der Kinder, die sie getragen hatten. Er roch die Eigentümer abgelegter Kleidung und Schuhe und lernte sie dadurch ein wenig kennen. Er roch altes Blut und Papiertaschentücher, Batteriesäure, roch die Einsamkeit kaputter, aufgegebener Spielsachen, die Rückständigkeit veralteter Computer und anderer Elektrogeräte.
Was das Regenwasser aus diesen und anderen Dingen herausspülte, -löste und -wusch, versickerte im Erdreich. Irgendwo in der Tiefe sammelte sich eine warme, organische Suppe: ein schwelender, sich zersetzender Kombucha-Pilz flüssigen Mülls. Sickerwasser war der offizielle Begriff dafür. Auch
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