Entsorgt: Thriller (German Edition)
Gott in einer Sache um sein Urteil oder seine Unterstützung bat, erhörte er sie. Alles, was sie zu tun hatte, um seine Antwort zu erkennen, war, wachsam zu sein. Das Zeichen konnte in einem Zeitungsartikel oder einer TV-Werbung erscheinen. Es konnte sie in Form eines Telefonanrufs oder einer zufälligen Fügung erreichen, die sich als besonders bedeutsam erwiesen. Da an Gottes Liebe teilzuhaben alles bedeutsamer machte, befand sie sich in ständiger Konversation mit ihm.
Zwar trug sie einen Seidenschal, um die Narbe zu verbergen, die das Seil an ihrem Hals hinterlassen hatte, aber daheim, wenn sie allein und in Sicherheit war, nahm sie ihn ab. Denn obwohl sie es als beschämend empfand und es niemals einen anderen Menschen sehen lassen würde, war es dieses Mal, das sie auf immerdar zu seinem Kind gemacht hatte. Ihr Mal der Errettung und Erlösung.
Und sie war immerzu wachsam.
Sie betrachtete es als ihre Pflicht, nicht bloß die frohe Botschaft zu verbreiten, sondern in ihrer kleinen Welt nach Fehl und Sünde Ausschau zu halten und die Dinge dann in Seinem Namen richtigzustellen. Wo sie zuvor in keiner Handlung, keiner Tat einen Sinn zu erkennen vermochte, erkannte sie nun die Spielzüge der Schlacht zwischen Gott und Satan. Zunehmend schien Satan die Oberhand zu gewinnen. Gier, Selbstsucht und das unstillbare Bedürfnis, jegliches Verlangen auf der Stelle zu befriedigen, rissen die christliche Welt auseinander. Moral und Sittlichkeit – jene so schlichten wie allgemeingültigen Grundsätze von Güte und Tugend, die bereits in den Zehn Geboten niedergelegt wurden – waren bloß noch ein seidener Faden, der keinerlei Halt und Sicherheit mehr bot. Um sie herum fiel Gottes Schöpfung auseinander. Obwohl es sie mit Angst erfüllte, zu was die Menschheit fähig war, zu was für Taten ganz normale Menschen sich herablassen konnten, rückte sie keinen Fußbreit von ihrer Verantwortlichkeit ab, dem Bösen kompromisslos entgegenzutreten. Sie schulterte diese Bürde mit einem glücklichen Lächeln.
Alles hatte seinen Zweck. Selbst die unerfreuliche Auseinandersetzung mit dem Smithfield-Mädchen vor ihrem Haus hatte ihr etwas eingebracht: nämlich die Idee, ihren alten Fotoapparat zu benutzen. Während sie nun die Bilder betrachtete, die sie heute Morgen vom Fotogeschäft abgeholt hatte, wurde ihr klar, dass ihre Position nicht nur Verantwortung, sondern auch Macht mitbrachte. Was wiederum Teil Seiner Botschaft an sie war. Sie sollte nicht länger nur beobachten, sondern musste nun auch eingreifen. Ihre Kamera war veraltet. Sie funktionierte noch mit fotografischen Filmen, die man entwickeln lassen musste, erfüllte aber ihren Zweck zur Genüge. Nicht alle Fotos waren scharf, und nur wenige taugten als »Beweise«.
Ein oder zwei allerdings hatten die Macht, ein paar Dinge in Ordnung zu bringen.
Das Problem war nur, die Bilder möglichst effektiv zum Einsatz zu bringen und den richtigen Leuten zu zeigen. Sie hatte zwei Möglichkeiten:
Sie konnte ihren Zorn und ihr Verlangen, jemandem Schaden zuzufügen, zu den Schuldigen tragen und ihre Fotos jener Person vorlegen, die sie bis vor kurzem noch auf ihrer Seite gewähnt hatte. Oder sie konnte sie demjenigen zeigen, der in ihren Augen das größere Übel zu verantworten hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto deutlicher begriff sie, wie sehr ihre Voreingenommenheit gegenüber jungen, gut aussehenden, selbstbewussten Männern ihr Denken beeinflusste. Sie würde das Urteil dem Herrn überlassen müssen.
Wenn man es konsequent und nüchtern betrachtete, hatte die Frau weitaus Schlimmeres getan – und das auch schon deutlich länger. Mavis war erschüttert, dass sich Derartiges ausgerechnet in jener Gemeinde zutrug, in der sie seit zwanzig Jahren lebte. Es war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Welt geradewegs auf das Armageddon zusteuerte. Mavis sehnte sich diesen Tag ganz bestimmt nicht herbei, auch wenn sie der Überzeugung war, dass ihr eigenes Leben keinerlei Anlass bot, sich vor dem Jüngsten Gericht zu fürchten. Um etwas Zeit zu gewinnen und Gottes Zorn zumindest vorerst Einhalt zu gebieten, würde es vielleicht ausreichen, diese beiden jungen Menschen zu überzeugen, die Sündhaftigkeit ihres Verhaltens einzusehen und sie dazu zu bewegen, ihre Differenzen beizulegen und neu anzufangen. Diese Welt brauchte Liebe und Respekt. Aber mehr als alles andere brauchte sie Vertrauen, den Glauben in Gottes heilige Gesetze. Rechtschaffenheit, Güte und
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