Entsorgt: Thriller (German Edition)
gigantischer Mensch mit scharfen, zackigen Ecken und Kanten. Während Müll und Abwasser von ihm herunterrieselten und -tropften, stand er einfach bloß da. Nur sein Kopf schwenkte langsam von einer Seite zur anderen, als er seinen Blick über die Umgebung schweifen ließ. Er war höher als die Bäume, die ihm am nächsten standen. Vermutlich höher als ein dreistöckiges Gebäude. Ray hatte keine Zeit für eine akkuratere Schätzung seiner Größe. Er hörte die Sehnen im Nacken des Giganten wie angespannte Stahlseile ächzen. Dann schritt die Kreatur auf den See, auf ihn zu, jeder ihrer Schritte langsam und schwerfällig, aber überaus zielstrebig. Bei jedem Schritt, den sie näher kam, bebte der Boden unter ihren Füßen heftiger, gleich dem tiefen, schwerfälligen Puls eines gewaltigen Herzens. Er roch den fauligen Hauch von reanimiertem Müll und wiederbelebter Kloake.
Ungeachtet des nachlassenden Cider-Rauschs und des sich allmählich aufklärenden Marihuana-Nebels wusste Ray, dass er diesmal nicht halluzinierte. Auf der Deponie war der Müll zum Leben erwacht. Der Müllmensch kam auf ihn zu. Ray war wie gelähmt.
Als er die Umzäunung der Deponie erreichte, verharrte er erneut und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Ray hielt den Atem an, was angesichts der Tatsache, dass das Ding ihn aus dieser Entfernung unmöglich atmen hören konnte, völlig schwachsinnig war. So sehr es ihn auch drängte, ins Unterholz zurückzukriechen, seine Neugierde darauf, was die Kreatur als Nächstes tun würde, war stärker. Sie wandte sich der Richtung zu, die ihr Blick immer wieder suchte. Ray versuchte zu erspähen, was sie dort sah. Aber abgesehen von offenen Feldern und Stromleitungen gab es nichts zu sehen. Der Müllmensch setzte sich wieder in Bewegung, was für sich genommen bereits ein spektakulärer Anblick war. Ray wünschte, er könnte besser erkennen, wie das Ding funktionierte, woraus es genau gemacht war. Es stieg über den Sicherheitszaun der Mülldeponie und näherte sich einem der Strommasten. Der Mast hatte ungefähr seine Höhe und wirkte wie eine skelettierte Version der Kreatur selbst. Einen Augenblick lang überkam Ray so etwas wie Mitleid für den gigantischen Müllmenschen. Er suchte offensichtlich nach einem Gefährten. In dem Mast hatte er einen falschen Freund gefunden, einen, der ihn verbrennen und zerstören konnte. Beinahe hätte Ray ihm eine Warnung zugerufen, auch wenn es eigentlich schon zu spät war und der Riese ihn ohnehin nicht hören konnte.
Er bekam keine Gelegenheit dazu. Der Müllmensch hatte sich eine der Stromleitungen gegriffen und wand sie nun dem Stahlgerippe aus den Skeletthänden. Ein greller bläulicher Blitz blendete Ray für ein oder zwei Sekunden, dann hörte er ein entferntes elektrostatisches Knistern. Der Müllmensch hielt eine sich krümmende Starkstromschlange in seinen Händen. Blaue Funken sprühten im hohen Bogen aus dem durchtrennten Hals der Schlange. Der Körper des Müllmenschen flackerte stellenweise leuchtend rot, orangefarben und gelb auf. Er ruckte und zuckte, mit beiden Beinen fest am Boden verwurzelt. Dann trampelte er zurück zum Sicherheitszaun, wobei er das Kabel hinter sich herzerrte. Es bockte in seinen Händen wie ein dünner schwarzer Aal, der neonleuchtendes Gift versprühte. Der Müllmensch kniete nieder und rammte das Funken sprühende Ende tief in den Abfall.
Einen Moment lang geschah überhaupt nichts.
Dann begann die Oberfläche der Deponie zu pulsieren und zu schmelzen. Sie fing an zu kochen. Embryoförmige Schemen, zu klein und zu weit entfernt, um sie genauer bestimmen zu können, lösten sich kriechend und krabbelnd aus der Müllgrube. Von überallher und in alle Richtungen wieselten sie davon. Und die ganze Zeit über kniete der Müllmensch am Rand der Senke, wie ein Regengott, der die Wüste mit Wasser speist. Er schuf Leben.
Ray war die Böschung runter und auf dem Weg, noch bevor er überhaupt registriert hatte, dass er rannte.
Er hielt erst an, als er zu Hause war. Er schloss die Tür zweimal hinter sich ab, hechtete ins Badezimmer und verriegelte auch dort die Tür. Mit zitternden Beinen setzte er sich auf den Toilettensitz. Mit beiden Händen hielt er seinen Kopf und schnappte nach Luft, während er heulte wie ein kleiner Junge.
15
Kevin sah, wie Tamsin die Tür öffnete, angeekelt die Nase kräuselte und schnurstracks in die Küche marschierte. Mit den Händen an den Hüften baute sie sich im Türrahmen
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