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ENTWEIHT

ENTWEIHT

Titel: ENTWEIHT Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Lumley
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war ja noch nicht einmal seine, sondern Harry Keoghs Mutter. Es war nur ein weiteres Bindeglied – etwas, was sowohl Jake als auch der ursprüngliche Necroscope gemeinsam hatten – das die Situation in Jakes Geist heraufbeschwor. Bloß eine Erinnerung, mehr nicht. Allerdings nicht seine Erinnerung ...
    Augenblicklich stand er wieder an der Mauer und war zurück in Jakes Geist, in Jakes Wirklichkeit.
    Jake?, meldete Korath sich erneut zu Wort, und diesmal klang er doch tatsächlich besorgt!
    »Alles in Ordnung«, sagte Jake, immer noch etwas aufgewühlt. »Es ist bloß der Fluss, ungefähr so wie ... ich weiß nicht, ein Déjà vu oder etwas in der Art. Weißt du, Harry und ich, wir haben beide jemanden auf die gleiche Art und Weise verloren. Harrys Mutter ertrank, und bei mir war es ...«
    Doch kaum kehrten seine Gedanken zu Natascha zurück, war es gleichfalls wie eine Beschwörung.
    Jake? Es war ihre Stimme. Er hatte geglaubt, er würde sie nie wieder hören. Natascha. Es war, als flüstere sie ihm direkt ins Ohr. Jake stockte der Atem, er fuhr herum ... doch in Wirklichkeit erklang das Flüstern lediglich in seinem Geist.
    Und paradoxerweise fand Jake es, eben weil es sich um Natascha handelte, weit weniger glaubhaft und konnte es nicht einfach so hinnehmen wie bei Harry, Zek, Korath oder auch Jean Daniel. Denn Natascha war für ihn ebenso wirklich gewesen wie das Leben selbst – nein, sie war sein Leben gewesen! Jake hatte sie gekannt – die warme, lebendige, immer so traurig lächelnde, ach-so-wirkliche Natascha, und Menschen, die man kennt, reden nicht einfach so mit einem, wenn sie tot sind.
    Nun, und der Franzose war wohl nicht wirklich gewesen? Nun ja, doch trotz seiner Wirklichkeit – trotz des dreidimensionalen Status, den er in Jakes Geist einnahm – war er ein Fremder gewesen, ein Pappkamerad, eine Zielscheibe auf einem Schießstand. Ja, ein Ziel, mehr nicht, und zwar eines, das nun in Stücke geschossen war. Und ebendarin lag das Paradox.
    Jean Daniel und die anderen, sie waren einfach nicht von Bedeutung, Natascha hingegen war in Jakes Erinnerung immer noch sehr real. Und als er nun ihre Stimme hörte, auch wenn es die Stimme einer Toten war, wurde er von seinen Gefühlen übermannt.
    »Gott!«, sagte er. »Oh Gott! Ich habe dich im Stich gelassen. Ich ließ dich ertrinken!«
    Jake, Jake, Jake, sagte sie. Ihre Stimme klang wie Meeresrauschen in einer Muschelschale. Hör auf, dich selbst zu quälen. Du hast mich nicht ertrinken lassen. Nein, du nicht! Du konntest bloß nichts dagegen unternehmen, das ist alles. Und, Jake, eines musst du wissen: Ich habe nicht das Geringste gespürt. Ich bin nicht mehr aufgewacht, wusste gar nicht, was geschieht, und musste nicht leiden.
    »Aber jetzt leidest du«, entgegnete er. »Deine Stimme, sie klingt so leise. So schwach.«
    Aber das liegt doch nicht daran, dass ich leide, Jake. Weißt du, ich wurde eingeäschert, genauso wie ich es mir wünschte. Vor langer Zeit hatte ich das in einem Testament festgelegt. Ich wurde eingeäschert und meine Asche im Wind verstreut. Ich habe mich immer für frei gehalten – auch wenn dem nicht so war, selbst als ich schon in der Falle saß –, denn das war meine Art, dem Alltag zu entgehen. Und jetzt bin ich frei und treibe mit dem Wind dahin, ich bin in den dunklen Wolken über den Bergen dort, mit dem Regen falle ich auf die Wälder, ins Meer. Und während ich so dahintreibe, werde ich immer weniger, ich verteile mich immer weiter, könnte man sagen. Aber das ist okay so, denn je weniger von mir übrig bleibt, desto größer meine Freiheit.
    »Und dennoch befindest du dich auch hier?«
    Das musste ich doch. Es ist eine reine Willensfrage, Jake. Als ich von dir hörte ...
    »... von mir? Wie konntest du von mir hören?« (Jake versagte beinahe die Stimme.)
    Die Große Mehrheit redet über dich, erwiderte sie. So viele auf einmal, Jake: Es war, als würde ein gewaltiger Schrei aufsteigen! Sie spürten deine Wärme und hielten dich zunächst für einen anderen. Dann begriffen sie, dass du keineswegs derjenige warst – und wie sie sich dann in die Haare gerieten! Der Streit ist noch immer nicht beigelegt, weil viele von ihnen noch immer nicht wagen, sich in deine Obhut zu begeben.
    »In meine Obhut?«Jake schüttelte den Kopf; das begriff er nicht. »Was glauben die denn, wer ich bin? Etwa der Erzengel Gabriel?«
    So ungefähr!, antwortete Natascha und fuhr, noch ehe er fragen konnte, was das nun wieder zu bedeuten habe,

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