ENTWEIHT
er bisher vergeblich zu finden versucht hatte.
Jake zuckte zusammen. Ein Vorfall am Flughafen von Brisbane fiel ihm ein. Er war gerade im Begriff gewesen, mit Trask und den übrigen ESPern an Bord der Maschine nach England zu gehen, da hatte er den Eindruck gehabt, durch die Plexiglaswand, die den Sicherheitsbereich vom öffentlich zugänglichen Teil des Flughafens abtrennte, ebendieses Gesicht zu sehen. Einen kleinen, dürren, wieselartigen Mann mit rastlosem Blick und einem bleichen, von schlimmen Pockennarben gezeichneten Gesicht. Er sah eindeutig aus wie eine Ratte … im einen Augenblick war er noch da gewesen und im nächsten schon wieder verschwunden.
Damals hatte Jake es für Einbildung gehalten, für eine Ausgeburt seiner schon zwanghaften Besessenheit. Es kam vor, dass er, ganz gleich wohin er auch blickte, immer wieder diese verhassten Gesichter vor sich sah, obwohl drei von ihnen mittlerweile tot waren, er hatte sie eigenhändig umgebracht. Darum hatte er dem Vorfall weiter keine Beachtung geschenkt. Denn was sollte ein Mitglied von Castellanos Bande in Australien zu schaffen haben?
Natürlich bekamen auch die Toten seine Gedanken mit.
Das kann man sich doch unschwer vorstellen, meinte der Franzose. Seine Stimme wurde immer leiser, während er davondriftete, zweifellos zurück nach Avignon. Wahrscheinlich schickte Castellano Lefranc dort rüber, um dich im Auge zu behalten, weil du anfingst, ihm auf die Nerven zu gehen. Alfonso ist Luigis Mann für die Informationsbeschaffung, sein Spion, der raffinierteste Kerl, der mir je untergekommen ist. Zugleich allerdings auch eine wahre Ratte, ein elender Spitzel und mieser Informant. Ich glaube, wenn du es nicht tust, wird Luigi ihn eines Tages umbringen. Das Mundwerk dieses Kerls ist größer als die Muschi eines Pornostars! Er kann einfach nicht anders, als das Maul ständig zu voll zu nehmen. Er ist eine einzige Last. Vielleicht hättest du ihn als Ersten umlegen sollen, Necroscope. Alfonso hätte auf jeden Fall mit dir geredet, darauf kannst du Gift nehmen.
»Ach, du hast mir bereits genug gesagt«, entgegnete Jake. »Ich habe einen neuen Namen, mit dem ich etwas anfangen kann, und du hast mir zumindest eine Sache bewiesen, von der ich zwar hörte, die ich aber nie erlebt hatte.«
Und das wäre? Nur noch ein Flüstern im Äther der Totensprache.
»Wenn Menschen sterben, fahren sie damit fort, das zu tun, was sie im Leben getan haben. Du bist der tote Beweis dafür, Jean Daniel. Du warst und bleibst ein wertloser Mistkerl.«
Zur Hölle mit dir, Necroscope! (Alle Schärfe und Rachsucht war aus der Stimme des toten Franzosen geschwunden und erneut einem erstickten Schluchzen gewichen, das rasch verhallte.)
»Gleichfalls«, sagte Jake, nun allerdings zu sich selbst, »dessen bin ich mir sicher.«
Danach herrschte Schweigen …
Enttäuscht stand Jake einsam – und doch nicht allein – in jener Seitenstraße in Marseille. Besonders diplomatisch bist du ja nicht gerade, sagte Korath schließlich.
»Oh?«, machte Jake. »Diplomatisch? Mit Abschaum wie diesem? Wahrscheinlich willst du damit sagen, dass ich dir, was das Lügen und Wortverdrehen betrifft, nicht das Wasser reichen kann.«
Kann schon sein, entgegnete der andere, ohne sich beleidigt zu fühlen. Aber das ganze Gefluche, all diese Beschimpfungen und Schmähreden … ich bin doch sehr überrascht! Du bist nicht immer so, äh, direkt.
»Ich?«, widersprach Jake. »So, wie ich die Sache sehe, hat er doch die ganze Zeit gelästert. Ich zahlte es ihm lediglich mit gleicher Münze heim, so gut ich konnte. Schließlich soll man sich doch seinem Gesprächspartner anpassen, oder?«
Unter den Wamphyri, sagte Korath, beleidigt man sich nur selten. Weshalb einen Gegner vorwarnen, indem man ihn beschimpft, wenn rasches, entschlossenes Handeln viel lauter für sich zu sprechen vermag als jedes Wort? Was bringt es schon, über einen ungehorsamen Knecht zu fluchen? Noch die schärfsten Worte gehen zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus, schließlich sind es ja doch bloß Worte und er ist ein Vampir! Sollte hingegen sein Kopf in Gefahr sein und ihm einfach von den Schultern rasiert werden ...
»... dann mag es für ihn zwar zu spät sein«, sagte Jake, »aber die anderen werden es kapieren.«
Genau, meinte Korath. Bei uns gibt es einen Spruch: Pfahl und Schwert dringen ins Herz, aber Beschimpfungen ...
»... bringen keine Pein?«, nickte Jake. »Wir haben hier, auf dieser Seite des Tores, ein
Weitere Kostenlose Bücher