ENTWEIHT
an ihren Erinnerungen zerrte, um sie auszulöschen.
»Du bist hingefallen«, erklärte er ihr, »auf der steilen Treppe gestürzt, als du vor diesen schmutzigen, lüsternen Frauen wegliefst. Das ist alles, woran du dich erinnerst. Und sollte Vavara oder sonst irgendjemand dich nach mir fragen, wirst du antworten, dass du mich nicht kennst und lediglich weißt, dass ich der gute Vater Maralini bin. Ruhig, ganz ruhig! Und was die Sache angeht, die du für einen Traum hieltest – nun, es war ein Traum!«
Er ließ sie los, Anna verdrehte noch einmal die Augen, und allmählich nahm sie ihre Umgebung wieder wahr. Sie blinzelte, holte tief Luft und sagte: »W-was mache ich hier?«
»Ich habe dir aufgeholfen, mein liebes Kind«, erwiderte er. »Du bist gestürzt!«
»Ja«, flüsterte sie. »Ich … ich bin auf der Treppe gestürzt.«
»In der Tat«, sagte Malinari. »Aber du hast lediglich ein paar blaue Flecken davongetragen, es ist nichts gebrochen. Und nun musst du gehen, denn es ist schon Abend und bald wird das Kloster erwachen. Sie würden über dich tratschen, sollte jemand dich hier antreffen, und zweifellos würde es Vavara zu Ohren kommen.«
»Die anderen Schwestern ...« Sie überlief ein heftiger Schauder.
»Ja, gehe ihnen aus dem Weg«, nickte er, »damit sie dir nicht noch einmal nachstellen und du nicht wieder stürzt. Und nun geh!« Damit öffnete er unvermittelt die Tür und schob sie hinaus …
Rasch zog Malinari sich an, stellte sich in die Mitte seiner zellenartigen Stube und ließ seine Gedanken schweifen. Es war immer noch alles sehr ruhig. Die Nonnen schliefen noch in ihren Zellen oder waren gerade dabei, aufzuwachen. Und Vavara, drüben im anderen Turm … ihr Bann bestand weiterhin. Der verlogene Gestank nach Güte, Tugend und Erbarmen – allesamt Dinge, die sie in Wirklichkeit überhaupt nicht kannte – umfing verlockend Malinaris vorsichtige Gedankensonde, bis er um ein Haar selbst daran glaubte … allerdings kannte er sie. Ha! So viel zu diesem Miststück: Sie schlief weiter!
Vavara schlief, zugegeben – aber wer waren dann jene anderen, deren Schnüffelei ihn knurrend erwachen ließ? Vom Dach des Turmes, von den Zinnen aus, hatte man einen hervorragenden Rundumblick.
Indem er sich neben eines seiner schmalen Fenster stellte, wo ihn, sollte noch einer vorhanden sein, kein verirrter Strahl des todbringenden Sonnenlichts zu treffen vermochte, zog er Schicht um Schicht die schweren Vorhänge zurück. Doch die Sonne sank bereits und das Zwielicht der Dämmerung war im Begriff, sich auszubreiten. Gut!
Er verließ seine winzige Stube, rauschte die Treppe zur Falltür hinauf, stieß diese auf und trat auf das Turmdach hinaus. Ja, von hier hatte man einen perfekten Ausblick, und das Dach bot auch eine ideale Plattform, um sich von hier aus in die Lüfte zu schwingen, wenn es so weit war. Denn als Malinari seine Vampirgestalt annahm und das Gesicht zum Himmel hob, um witternd die Nachtluft einzuziehen, war er gewiss, dass die Zeit dazu kommen würde, und zwar bald.
Das Gezwitscher von Fledermäusen schallte durch die Luft. Unhörbar für jeden anderen, für Malinari jedoch war es, als würden sie zu ihm sprechen. Schade nur, dass er sie oder vielmehr ihre Sprache leider nicht verstand. Ah, wenn dies doch bloß die Sternseite wäre und diese Kreaturen seine Vertrauten! Zehntausend Augen, und alle würden sie die Nacht auf sein Geheiß hin durchsuchen!
Aber das Sehen war ein ziemlich alltäglicher Sinn, und es gab andere, weniger profane Sinne. Hatte Malinari einmal jemandes Gedanken gelesen, kannte er die Signatur des betreffenden Gehirns – und er besaß ein so gutes Gedächtnis, dass er diese niemals vergaß – und er kannte auch das psychische Muster eines gewissen Gruppenverstandes, nämlich desjenigen, der ihn, wie er annahm, aus dem Schlaf gerissen hatte. Andererseits war ihm durchaus bewusst, dass er, nicht anders als ganz gewöhnliche Menschen, zu Albträumen neigte, mit dem Unterschied allerdings, dass die seinen noch um einiges albtraumhafter waren. Damit war es zwar nicht wahrscheinlich, aber dennoch möglich, dass er lediglich geträumt hatte, dass seine Abschirmung gar nicht von irgendwelchen Möchtegern-Eindringlingen, die seinen Tod wünschten, gestreift worden war. Aber er musste auf Nummer sicher gehen, denn seine Existenz hing davon ab ...
… und auch diejenige Vavaras, dieser undankbaren Hexe. Im Westen ragten noch wie die Speichen eines Rades die allmählich
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