Enwor 1 - Der wandernde Wald
ich diesen Satz ein paarmal zu oft gehört, ~Coar. Jedermann hat nur das Wohl des Volkes im Auge! Habt ihr eigentlich auch so etwas wie ein Leben? Für euch, meine ich? "Ich… ich muß allmählich an einen Ameisenstaat denken, wenn ich euch sehe. Cearn mag ein Paradies sein, aber ihr erkauft dieses Paradies mit Selbstaufgabe.«
»Aber das stimmt doch nicht!«
Skar schwieg einen Moment. »Vielleicht nicht«, sagte er leiser. »Vielleicht mußtet ihr so werden, um zu überleben. Ich weiß es nicht. Aber das ist es gerade, was ich versucht habe, Mergell zu sagen, Coar. Del und ich können nicht hierbleiben, selbst wenn wir es wollten.« Er stockte, nahm Coar sanft in die Arme und preßte sie an sich. »Es geht nicht«, fuhr er im Flüsterton fort. »Was gerade geschehen ist, beweist mir, daß ich recht habe. Ihr und wir, das sind Vertreter zweier verschiedener Welten, Coar. Ich habe Mergell belogen, als ich behauptet habe, euch nicht ausbilden zu können. Ich könnte in wenigen Jahren ein Volk von Kriegern aus euch machen, aber der Preis, den ihr dafür zahlen müßtet, wäre es nicht wert. Ich kann aus einem Cearner keinen Satai machen, ohne daß er sich verändert. Wir sind mehr als zwei Menschen, die zufällig an zwei verschiedenen Orten geboren sind, Coar. Ich habe dir von Enwor erzählt, und nicht ein Wort von dem, was ich sagte, war unwahr. Die Welt ist hart, hart und voller Gewalt und Brutalität und Unmenschlichkeit. Ihr würdet ebenso werden, würde ich Mergells Wünschen folgen. Die Männer, die ich ausbilden würde, wären keine Cearner mehr, hinterher. Eure Kultur würde zugrunde gehen.«
»Ich glaube es dir nicht«, sagte Coar. »Unmenschlich… brutal… bist du es denn?«
Skar zögerte einen winzigen Moment. Er wußte, daß er Coar weh tun würde, wenn er weitersprach, daß er das Bild, das sie sich von seiner Welt — von ihm — gemacht hatte, zerstören würde, aber er wußte auch, daß ihm keine Wahl blieb. Nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick. Es war noch nicht einmal so sehr die Wut auf Mergell. Natürlich war er verärgert, aber Coars Reaktion zeigte nur zu deutlich, wie falsch das Bild war, das sie von ihm hatte.
»Ja«, sagte er schließlich. »Den Mann, den du bisher kennengelernt hast, den gibt es nicht, Coar. Es hat ihn nie gegeben, und wenn doch, dann nur für wenige Tage.« Coar verzog die Lippen zu einem trotzigen Lächeln. »Das sagst du nur, um —«
»Du hast mich kämpfen sehen, Coar«, fiel ihr Skar grob ins Wort. »Und du warst beeindruckt davon. Was du nicht gesehen hast, das war die Einstellung, die man braucht, um so zu kämpfen. Ich habe mehr Menschen getötet, als Went Einwohner hat, Coar. Ich habe gemordet und gebrandschatzt, und ich habe Heere kommandiert, die größer waren als euer ganzes Volk. Ich habe lernen müssen, Männer in den sicheren Tod zu schicken und einen Feind zu vernichten, bevor er wirklich zum Feind werden kann. Ich habe mehr Macht gehabt, als sich Männer wie Mergell überhaupt vorstellen können. Ich habe lernen müssen, Frauen und Kinder zu töten und wehrlose Dörfer in Brand zu setzen. Willst du, daß ich euch das zeige? Willst du wirklich, daß eure Männer so werden? Willst du das?«
Coar antwortete nicht, aber Skar sah deutlich, wie betroffen sie zwar. Sie sah ihn an, öffnete den Mund, brachte aber nur einen kläglichen, halbwegs wimmernden Ton hervor. Ihre Lippen zuck:ten. Aber Skar wußte, daß sie ihm immer noch nicht glaubte. Obwohl es ihn beinahe mehr schmerzte als sie, mußte er das Messer in der Wunde auch noch herumdrehen. Er ergriff Coars Arm, zog sie grob zu sich heran und drückte zu. Sie wand sich unter seinem Griff, aber er ließ nicht los, sondern drückte im Gegenteil noch fester zu.
»Du tust mir weh!« keuchte sie.
Skar lachte rauh. »Wirklich? Vielleicht macht es mir Freude, jemandem weh zu tun.«
»Skar, bitte! Du… du…«
»Schweig!« zischte Skar.
»Du wolltest doch, daß eure Männer so werden wie wir, oder? Oder möchtest du nur einen Helden auf Abruf, eine Kampfmaschine, die sich in einen Märchenprinzen verwandelt, wenn der Feind geschlagen ist?« Er lachte erneut, ergriff mit der anderen Hand Coars Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Den Märchenprinzen, den du dir wünschst, Coar, den gibt es nicht! Es wird ihn nie geben, verstehst du das endlich?«
Coar wand sich verzweifelt unter seinem Griff, aber gegen seine überlegene Kraft kam sie nicht an. Er schüttelte sie wie ein Spielzeug und stieß sie
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