Enwor 1 - Der wandernde Wald
scharf. »Larynn und die anderen sind nicht so dumm, wirklich zu glauben, daß wir direkt vom Himmel gefallen sind, um ihr Volk aus der Knechtschaft zu führen. Ich habe eine ganz andere Befürchtung.« Er setzte sich wieder auf und beugte sich vor. »Hat dir Coar erzählt, daß längst nicht alle Cearner mit der Politik einverstanden sind, die in Ipcearn gemacht wird?«
Skar starrte den jungen Satai verblüfft an. »Nein«, sagte er erstaunt. »Das ist das erste, was ich höre. Im Gegenteil — heute morgen hatte ich den Eindruck, daß diese Menschen einen Heidenrespekt vor Mergell und seinen Leuten haben.«
»Das haben sie auch«, bestätigte Del. »Doch das eine schließt das andere nicht aus, oder? Dieses Volk wartet seit Jahrhunderten darauf, in seine Heimat zurückkehren zu können. Viele von ihnen haben die Hoffnung insgeheim längst aufgegeben, aber es gibt auch Stimmen, die nicht länger warten wollen. Ginge es nach Bernec und seinen Freunden…«
»Bernec!« unterbach ihn Skar verblüfft.
»Du hast ihn kennengelernt?«
»Und ob«, nickte Skar. »Was ist mit ihm?«
Del wiegte den Schädel. »Er gehört zu einer Gruppe junger Krieger, die lieber heute als morgen ein Heer zusammenstellen und durch die Nonakesh ziehen würden, um Urcöun zurückzuerobern. Sie wollen nicht länger warten. Einzig der Respekt vor Ipcearn hält sie noch von einer offenen Revolte zurück.« »Und was haben wir damit zu schaffen?«
»Nichts«, sagte Del. »Jedenfalls nichts, was uns angeht. Aber es wäre nicht das erste Mal, daß ein völlig unbeteiligter Fremder zum auslösenden Moment wird. Ein unbedachtes Wort kann genügen. Went mag friedlich erscheinen, aber es ist ein Pulverfaß.«
»Ein Grund mehr, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden«, sagte Skar halbherzig. Dels Worte hatten seine Verwirrung noch mehr gesteigert.
»Wenn sie uns weglassen«, sagte Del. Er schwieg einen Moment und seufzte. »Aber ich will nicht unken, Skar. Ich werde hierbleiben und auf dich warten, während du in lpcearn bist. Aber ich bitte dich, vorsichtig zu sein. Nach allem, was ich über Ipcearn gehört habe, sind die Könige nicht so harmlos, wie es scheint. Wir —« Er brach mitten im Satz ab und wandte den Kopf. Der Vorhang wurde raschelnd beiseitegeschoben, und Thoranda erschien unter der Tür. Sie trat einen Schritt in den Raum hinein, blieb stehen und sah Del mit offenkundiger Mißbilligung an.
»Genug geredet, ihr beiden«, sagte sie streng. »Ihr habt später noch Zeit genug, euch zu unterhalten.«
Del wollte protestieren, aber Thoranda ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Nichts da«, sagte sie entschieden. »Wenn du wieder vollends genesen bist, kannst du den starken Mann spielen, solange es dir beliebt, aber jetzt wirst du tun, was ich dir sage, und dich ausruhen. Du brauchst Schlaf und kräftige Nahrung. Und vor allem Ruhe.«
Skar grinste schadenfroh, als er den hilflosen Ausdruck auf Dels Gesicht sah. »Tu lieber, was sie sagt«, riet er. »Du kommst sowieso nicht gegen sie an. Ich habe es auch versucht.« Er stand auf und ging mit ein paar raschen Schritten zur Tür. »Ich komme später noch einmal wieder.«
»Später«, sagte Thoranda betont, »wird dein Freund schlafen, Skar. Du kannst ihn morgen besuchen, bevor du nach Ipcearn aufbrichst. Ich habe ihn nicht mühsam gesundgepflegt, damit er sich jetzt wieder überanstrengt.«
Skar seufzte. »Gut, wenn du es meinst. Dann auf morgen.« Er nickte Del zum Abschied zu, dreht sich um und verließ mit eiligen Schritten den Raum. Dels Worte hatten ihn mehr aufgewühlt, als er zugeben wollte. In seinem Inneren kochte ein wahrer Vulkan einander widersprechender Gefühle und Empfindungen. Er wußte nicht, ob er nun wütend oder erleichtert sein sollte, das Geheimnis endlich gelöst zu haben, oder ob er es überhaupt gelöst hatte. Er hatte von Anfang an gespürt, daß die Cearner mehr in ihm sahen als einen einfachen Satai, und doch hatten ihn Dels Worte maßlos überrascht. Überrascht und enttäuscht. Denn wenn Del die Wahrheit gesprochen hatte, dann war das Verhalten der Cearner Berechnung, wenn auch sicherlich nicht bewußt. Aber der Gedanke, benutzt zu werden, letztlich nicht mehr als ein Werkzeug zu sein, brachte ihn in Wut. Er würde zu Coar gehen und die Frage klären, ein für allemal. Sicher hatte Del recht —dieses Volk hatte mehr, viel mehr für sie getan, als sie erwarten durften, und vielleicht hatte er kein Recht, ihre Träume und Hoffnungen zu
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