Enwor 10 - Die verbotenen Inseln
beiden schneebedeckten Gipfeln, den kleinen, dunkleren?«
Auch Skar hob die Hand über das Gesicht und schützte seine Augen vor dem noch immer beständig nieselnden Regen. Nach einem Moment sah er, was Titch meinte.
Er war nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Berg war — seine Flanken waren zu glatt und zu ebenmäßig, und seine Form erinnerte an eine gigantische, zu einem knappen Drittel abgeflachte Pyramide. Aber er verscheuchte den Gedanken, daß es sich bei diesem Berg um ein künstliches Gebilde handeln konnte, fast so schnell, wie er ihm gekommen war. Der Berg mußte zwei Meilen hoch sein, wenn nicht mehr. Er nickte.
»Caran«, erklärte Titch. »In seinem Fels befinden sich die Höhlen, in denen die Bastarde leben. Und ich glaube, auch noch ein gutes Stück darunter. Was schätzt du, wie weit man von seinem Gipfel aus sehen kann?«
»Keine Ahnung«, murmelte Skar. »Aber aufjeden Fall weit genug. Du hast recht.« Er seufzte. »Du warst schon einmal hier?« »Mehr als einmal. Und auch nicht allein. Ich spreche aus Erfahrung, weißt du? Es gibt keine Möglichkeit, sich Caran unbemerkt zu nähern. Eine Menge guter Männer haben ihr Leben gegeben, um das herauszufinden.«
Skar sah überrascht auf. Er kannte Titch mittlerweile gut genug, um diese Bemerkung als das zu deuten, was sie war: als Einladung zu einem Gespräch. Titch sagte niemals etwas
nur so.
Soviel er wußte, gab es das Wort
Konversation
in der Sprache der Quorrl nicht einmal.
»Ich kam als Feind damals«, fuhr Titch fort, ohne Skar anzusehen und mit sonderbarer Betonung. Skar spürte, daß er lächelte, obwohl auch er nicht aufsah, sondern die Kapuze wieder weit ins Gesicht gezogen hatte, um sich vor dem Regen zu schützen. »Um sie zu vernichten. Heute komme ich als Flüchtling zu ihnen. Als Bittsteller. Ich hoffe, sie lassen mir Zeit, zu sagen, was ich von ihnen will.«
»Sie werden wissen, was hier vor sich geht«, vermutete Skar.
»Und? Sie sind uns nichts schuldig.«
»Worauf willst du hinaus?« Skar sah nun doch auf und blickte den Quorrl scharf an. Er spürte, daß Titch ihm nicht alles gesagt hatte, was es über Caran zu wissen gab.
»Darauf, daß es vielleicht doch besser ist, wenn du dich von uns trennst«, antwortete Titch nach kurzem Zögern. »Noch ist Zeit dazu.«
»Und wie weit würde ich ohne dich kommen?« fragte Skar. »Vielleicht weiter als
mit
mir«, antwortete Titch mit großem Ernst. »Jetzt gerade. Die Tempelgarde hat alle Hände voll damit zu tun, mich und meine Männer zu jagen. Sie werden kaum Ausschau nach einem einzelnen Mann und einem Kind halten. Dort vorne —« Er deutete wieder auf die Berge. »- gibt es kein Zurück mehr. Hör auf mich, Skar. Nimm Kiina und gehe nach Ninga. Ich gebe dir zwei Krieger mit, die euch den Weg zeigen.« Skar zügelte sein Pferd, und auch Titch verhielt sein Tier. Die hinter ihnen reitenden Quorrl wichen nach rechts und links aus, und die Lücke blieb auch vor ihnen erhalten, als wollten sie ihnen Gelegenheit geben, in Ruhe zu reden und sich dann wieder an die Spitze des kleinen Heereszuges zu setzen.
»Du willst nicht, daß ich mitkomme«, sagte Skar ernst. »Nicht wahr? Es ist nicht nur deine Sorge um mich oder das Mädchen. Du willst nicht, daß wir nach Caran gehen.«
Titch schwieg, aber er tat es auf eine Art und Weise, die Skar begreifen ließ, daß er der Wahrheit sehr, sehr nahe gekommen war, mit seiner Vermutung. Und ganz plötzlich wußte er auch, warum: Caran war vielleicht das letzte Bollwerk der Freiheit in ganz Cant: vielleicht das einzige, das es jemals wirklich gegeben hatte.
»Du traust mir immer noch nicht«, sagte er leise.
»Doch«, antwortete Titch. »Dir schon, Skar.« Er lächelte traurig, sagte noch einmal:
»Dir
schon, Satai«, und ließ sein Pferd weitertraben.
Skar wußte, daß es ein Fehler war — aber seine Hand reagierte fast ohne sein Zutun. Blitzschnell beugte er sich vor, ergriff den Quorrl am Arm und riß ihn mit solcher Macht herum, daß selbst Titch für einen Augenblick im Sattel wankte.
»Was willst du damit sagen?« schnappte er mit einer Stimme, die vor Wut zitterte — seltsam, dabei
empfand
er gar keinen Zorn, sondern nur einen tiefen, wühlenden Schmerz, wie von einer offenen Wunde, in die Titchs Worte Säure gegossen hatten. »Du glaubst, ich —«
Titch riß sich los. Zwei, drei der Krieger, die an ihnen vorüberritten, bewegten sich plötzlich langsamer, und Skar spürte die aufmerksamen Blicke, die Titch und ihn
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